Winnipeg, Manitoba – Deutsch-russische Vergangenheit in Kanada: die Mennoniten

Die Saison der Black Flies ist zum Glück vorüber, sobald es ihnen zu warm wird. Heute Morgen fühlen sie jedoch  äußerst wohl und zeigen gesunden Appetit. Lokal gekaufte Insektenabwehrmittel wirken gut, aber während Mücken sich von einer Wolke für sie unangenehmen Geruchs weiträumig abschrecken lassen, vermeiden Black Flies lediglich den unmittelbaren Kontakt mit dem Repellent und suchen sich gezielt unbehandelte Körperstellen aus. Da man die Chemikalie nicht in Augennähe verwendet, beißen die Fliegen mit Vorliebe ein Stück Oberlid unmittelbar unter der Augenbraue heraus, wo die Haut besonders weich ist. Großer Beliebtheit erfreut sich auch die Kopfhaut – durch das Haar hindurch.

Nordontario ist die Heimat zahlreicher Stämme der First Nations wie der Sioux und der Cree, um nur zwei der bekanntesten zu nennen. Der Highway zieht sich durch ein Land voller bewaldeter Hügel, Basaltfelsen, Seen und kleiner Flüsse. Der geneigte Kanadier – oder jeder andere Besucher – kann in einer der vielen hübschen Holzlodges seinen Angel- oder Jagdurlaub verbringen. Von einem der Wasserflugplätze lässt man sich zu den besten Fischgründen fliegen. Zum Jagen muss man vermutlich nicht weit laufen. Große kräftige hellbraune Hirsche springen fröhlich über die Straße hin und her. Später sehen wir am Waldrand einen Schwarzbären beim Fressen.

Beim Mittagspicknick noch in Ontario spricht uns ein junges Paar an – auf Deutsch. Die Erklärung für ihre Sprachkenntnisse liefern sie gleich dazu: sie sind Mennoniten. Dabei handelt es sich um eine christliche Glaubensgruppe, weder katholisch noch evangelisch, die die Erwachsenentaufe praktizieren. Erstmals aufgetreten 1537, gerieten die Wiedertäufer, deren ursprüngliche Heimat Norddeutschland und die Niederlande waren, mit der Amtskirche in Konflikt. Mit der Zeit wanderten sie in Richtung Osten bis nach Russland, wo der Zar sie zunächst willkommen hieß. Über die USA emigrierten sie schließlich nach Kanada, wo sich 1776 die ersten Mennoniten niederließen. Ein Großteil von ihnen verließ Russland spätestens ab Gründung der Sowjetunion, da sie sich erneuten Repressalien ausgesetzt sahen. Viele kehrten zunächst in ihre deutsche Heimat zurück, hatten sie sich doch Sprache und Traditionen bewahrt. Da waren sie aber als „Russen“ verpönt und folgten großteils ihren Glaubensbrüdern in die Neue Welt. Die Traditionalisten unter ihnen lehnen auch heute noch die Nutzung moderner Technologien rigoros ab. Sie spannen Pferde vor den Pflug und fahren mit der Kutsche zur Kirche. Der moderne Mennonit unterscheidet sich äußerlich in keiner Weise von jedem anderen Kanadier: Er trägt Shorts, T-Shirt und fährt Auto. Von Conrads und Lois’ vier Kindern haben nur die zwei ältesten ein paar Jahre eine deutsche Schule besucht. Nach einem Umzug wäre das nicht mehr möglich gewesen, so lernen sie nur noch englisch. Conrad gibt uns die Telefonnummer und Adresse seiner Eltern in Winnipeg, das unser nächstes Ziel ist. Sie würden sich über Besuch freuen.

1693 spalteten sich die ultrakonservativen Amish People von den Mennoniten ab. Aus Europa fast vollständig vertrieben, ließen sie sich zumeist in Ohio und Pennsylvania in den USA nieder, einige auch in Ontario. Darüber hinaus gibt es eine dritte Glaubensgemeinschaft der Wiedertäufer. Die Hutterer, meist in Mähren beheimatete Deutsche, praktizierten ab 1525. Ebenfalls verfolgt siedelten sie zunächst in Siebenbürgen, später in der Ukraine, dann in den USA und seit 1918 in Kanada. Die Hutterer leben in urchristlicher Gütergemeinschaft. Mehrere Familien bewirtschaften gemeinsam einen Bruderhof. Sie praktizieren traditionelle Rollenverteilung und ordnen die Interessen des Individuums dem Gemeinwohl unter. Auch heute noch erkennt man sie teils an ihren traditionellen Trachten in gedeckten Farben mit dezenten Mustern bzw. Hosenträgern und Kinnbart. Allerdings sehen sich auch die Hutterer modernen Einflüssen ausgesetzt und die Brüderhöfe verändern ihr Gesicht auf unterschiedliche Weise. Die meisten Mitglieder der drei Glaubensgemeinschaften sind Pazifisten und lehnen Wehrdienst ab, was in Kanada toleriert wurde.

Gleich hinter der Provinzgrenze zu Manitoba hole ich im Besucherzentrum Landkarten Stadtplan und Informationsbroschüren. Die junge Frau spricht auch ein paar Brocken deutsch, da sie es seit einem Jahr an der Universität studiert. Ihre Großeltern seien deutsche Mennoniten gewesen. Von ihren 16 Enkeln sei sie aber das einzige, das etwas Deutsch spreche. Trotz Kanadas Politik der ethnischen Vielfalt geht Kulturgut im Laufe der Zeit durch Angleichung verloren. Steinbach, Rosenort, Sommerfeld, Schoenwiese und Halbstadt sind nur einige der deutschen Ortsbezeichnungen in Zentralkanada. Deutsche sind nach den Briten die zweitgrößte ethnische Gruppe in Manitoba, gefolgt von den Ukrainern.

Kurz vor Winnipeg statuiert ein Schild die Mitte Kanadas – nach Längengraden gemessen, also in Ost-West-Richtung. Die Hälfte hätten wir also geschafft. Rein theoretisch.

Am Abend besuchen wir Conrads Vater David in Winnipeg, seine Frau ist nach Europa verreist. Er zaubert die größten Steaks auf den Grill, die ich je gesehen habe. Wir lernen noch viel über die Mennoniten. So z.B., dass heute 10 % der Einwohner Winnipegs Mennoniten sind, allerdings nur ein Teil davon aktive Gläubige. Die anderen bezeichnen damit lediglich, wie die Studentin in der Touristeninformation, ihre ethnischen Wurzeln. David hatte sich früher als Filmproduzent betätigt. Er drehte unter anderem eine im englischsprachigen Raum mehrfach preisgekrönte 90-minütige Dokumentation über die Historie der Mennoniten. In Deutschland blieb der unter dem Titel „Und wenn sie fragen werden“ erschienene Film weitgehend unbeachtet. David überreicht uns eine Kopie, sodass wir uns die DVD später im Laptop ansehen können.

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