Jasper, Jasper NP, Alberta – Gänsehaut im Angesicht der Grizzlybärenfamilie

Die Ranger an der Campingrezeption haben uns gestern ausdrücklich noch einmal darauf hingewiesen, keinerlei Lebensmittel oder Abfälle draußen liegen zu lassen, damit wir keine unerwünschten tierischen Besucher bekommen. Im Auto sind Lebensmittel gut aufgehoben, Bären brechen hier keine Autos auf. Für zeltende Fahrrad- oder Motorradfahrer stehen auf allen Plätzen bärensichere Staufächer bereit. Eine Kühlbox ist kein adäquater Schutz. Man soll nicht einmal im Zelt kochen, sonst riecht es zu sehr nach Essen. Die Kleidung, die man während des Kochens anhatte, sollte man beim Schlafen im Zelt keinesfalls tragen, damit der Bär nicht aus Versehen „Essen“ und „Mensch“ gleichsetzt, was mit ungünstigen Folgen für „Mensch“ verbunden sei könnte. Abfälle gehören in Müllcontainer mit Patentverschlüssen, die Bären nicht öffnen können. Heute Morgen führt eine seltsame Spur an unserem Truck entlang. Ein dicker Ballen mit fünf Krallen davor. Ein Bär auf nächtlicher Patrouille? Jetzt wissen wir, die Vorsichtsmaßnahmen sind absolut angebracht.

Am Maligne Lake, 30 km oberhalb des Maligne Canyon gelegen, kann man mehrere Wanderungen unternehmen. Für den Opal Hills Loop wurde höchste Bärenwarnung ausgesprochen, aber noch nicht gesperrt. Da gibt es für uns natürlich kein Halten. Obwohl der Trail mit 8,2 km relativ kurz ist, wird er als sehr anstrengend klassifiziert, da beispielsweise auf einem Teilstück von nur 3 km 460 m Höhenunterschied bewältigt werden müssen. Also schnaufen wir uns die ersten Kilometer durch den Wald und über eine Feuchtwiese. Zur gleichen Zeit mit uns ist ein holländisches Urlauberpärchen losgelaufen, die in ähnlichem Tempo gehen wie wir und die vor allen Dingen ähnlich schweigsam wandern. Wir wollen das Wild ja nicht verscheuchen, wir wollen es sehen. Sie haben glücklicherweise keine Bärenglocke oder Ähnliches dabei, um der Tierwelt schon Meilen im Voraus anzukündigen: Hier kommt ein Mensch. Hinter uns läuft schnatternd eine Gruppe Japaner. Ein junger Wapitibock quert zögernd unseren Weg; es ist nur einer von Dutzenden, die wir heute sehen. Die Gruppe hinter uns schreit mehr ängstlich als erstaunt. Vermutlich hat sie jetzt auch den Wapiti gesehen. Danach hören wir zum Glück nichts mehr von ihr. Wir haben sie abgehängt oder sie hat das gefährliche Terrain verlassen. Ein paar Kilometer weiter sträuben sich uns die Nackenhaare ein erstes Mal. Wir finden insgesamt fünf Bärenlosungen auf wenigen hundert Metern auf dem Weg, je zwei zusammen und eine einzelne, alle ziemlich frisch. Kann ein einzelner Bär so viele riesige Kothaufen in die Welt setzen? Offensichtlich benutzen Bären, wie Wild auch, menschliche Wanderpfade zur Fortbewegung, das ist schließlich bequemer als querfeldein. Vor dem letzten Anstieg laufen wir schon oberhalb der Baumgrenze entlang eines Hochplateaus, vielmehr ist es ein Hochtal, ein paar hundert Meter breit und mehrere Kilometer lang, umgeben von etlichen Berggipfeln. Es ist sehr friedlich und still hier oben, Gräser wachsen und Blümchen blühen. Wir überqueren zwei plätschernde Bäche und genießen die Berglandschaft. Wenn wir an dieser Stelle gewusst hätten, wie nahe wir den Bären bereits waren, wären wir nicht so ruhig hier lang gelaufen. Am Endpunkt der Wanderung angekommen stellen wir wieder einmal fest, es geht noch weiter und höher. Also nehmen wir die Beine in die Hand, den Rucksack auf den Rücken, und weiter geht’s. Statt nach rechts zum Seeblick abzubiegen schweifen wir nach links, wo wir das Hochtal überblicken können, das wir gerade durchlaufen haben.

Erst halten wir es für ein Stück Holz (oberhalb der Baumgrenze???), aber ein Blick durchs Fernglas offenbart: Hier schläft eine dunkelbraune Grizzlybärenmama mit ihren beiden blonden Kindern, eng aneinander gekuschelt. Die Jungen müssen vom letzten Jahr sein, sie sind schon fast so groß wie ihre Mutter. Wir beobachten und fotografieren eine ganze Weile dieses allerliebste, putzige Bild aus angenehmer, vermeintlich sicherer Entfernung von der anderen Seite des Flusses. Eines der Kleinen wacht auf, streunt herum, kehrt zurück, schließlich wacht auch der Rest der Familie auf und setzt sich in Bewegung – in unsere Richtung! Obwohl sie ohne Eile dahintrotten, kommen sie erschreckend schnell näher. Schon haben sie den Bach überquert und kommen den Hang hinauf, auf dem wir stehen. Wir könnten jetzt rufen, Lärm machen, uns unterhalten, mit nicht vorhandenen Bärenglöckchen bimmeln, auf einer durchaus am Rucksack vorhandenen Signalpfeife pfeifen, irgendwie auf uns aufmerksam machen. Wir tun es nicht. Zu fasziniert sind wir von dem Schauspiel, das sich uns bietet. Die Holländer ergreifen die Flucht, es wird ihnen zu ungemütlich. Sie können nicht so schnell rennen, meinen sie. Zum rennen ist es sowieso zu spät in Anbetracht der Geschwindigkeit, die die Tiere an den Tag legen können. Außerdem dürfte rennen so ziemlich das Dümmste sein, was man jetzt tun kann. Noch scheint die Distanz ausreichend, um nicht gefährlich zu sein. Da hebt eines der Jungen seine Schnauze, es hat unsere Witterung aufgenommen. Die anderen beiden entdecken uns jetzt auch. Sie schauen uns einen Moment an, dann drehen sie sofort ab, seitlich weg in Richtung Tal, wo zwei nichtsahnende Wanderer laufen und wo wir uns eine halbe Stunde zuvor noch bewegt haben. Die Bärenmutter zeigt, wie die Ranger es nennen, gutes Benehmen. Sie vermeidet den Kontakt mir Menschen, daher wurde dieser Pfad noch nicht gesperrt.

Während der ganzen Aufregung mit den Bären haben wir nicht auf das Wetter geachtet. Die Wolken haben sich zusammen gezogen, es ist trübe und dunkel. Erst jetzt bemerke ich meine Gänsehaut, die wohl eher von der Kälte denn vor Aufregung herrührt. Wir beginnen uns anzuziehen, die wasserfeste Jacke gleich hinterher, denn es beginnt zu regnen. Für ein Seebild ist es jetzt zu spät; es ist nass, kalt und bedrohlich. Wir genießen einen kurzen Moment den Ausblick, aber für Fotos ist es zu dunkel. Um nicht ungerecht zu sein: Wir haben hier oben eine Gruppe ausgesprochen netter Japaner getroffen. Der Abstieg ist noch steiler als der Aufstieg, ist aber in einer Stunde erledigt. Insgesamt haben wir die rund 10 km und 1300 Höhenmeter in drei Stunden absolviert, zuzüglich einer Pause und Bärengucken.

Auf dem Weg zum nächsten Camping, nun wieder im Sonnenschein, gibt es noch mehr Wapitis, Hirsche, Dickhornschafe und Bergziegen. Heute übernachten wir in Pocahontas. Das ist kein Scherz. Und Walt Disney hat sich den Namen für seinen Zeichentrickfilm auch nicht ausgedacht. Kurz „Poco“ ist der Name für ein Kohlefeld im amerikanischen Virginia, Heimat einer US-Firma, die Anfang des 20. Jahrhunderts zwei Kohleminen im Jasper Nationalpark betrieb. Die damals junge kanadische Nation benötigte das Geld. Die Rocky-Mountains-Kohle verbrennt sehr heiß und, weit wichtiger, rauchfrei. Während des 1. Weltkrieges wurden Truppenschiffe im Atlantik damit befeuert, damit deutsche U-Boote sie nicht durch ihre Rauchfahne ausfindig machen konnten. Ab 1930 wurde Pocahontas gesetzlich vor weiterem Kohleabbau geschützt und dem Tourismus anheim gegeben.

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