Dempster Highway, Yukon + North West Territories – Novemberwetter am Polarkreis

Glaubt man Kanadiern und Reiseführern, hat Kanada Supersommerwetter. Es habe 30°, selbst im Yukon, und es regne ganz selten. Ehrlich! In den letzten Tagen hat es mindestens ein Mal pro Stunde geregnet, unterbrochen von kurzen wolkenfreien Phasen mit Sonnenschein. Heute regnet es seit Stunden, das Thermometer erreicht nicht mal ganz 7°. Ist wohl gerade kein Sommertag. Trotzdem ist die Tundralandschaft märchenhaft. Hohe Täler, Hügel und Berge sind komplett mit niedrigen Büschen und Gräsern überwuchert. Dazwischen winden sich klare Bäche, die, reich an Kupferoxyd, eine rotbraune Farbe angenommen haben. Sie fließen dem Ogilvie River zu, der die Straße eine Weile begleitet und stetig wächst. Der Liebreiz der Landschaft ist jedoch trügerisch: Man kann nicht einen Fuß neben die Straße setzen, ohne zu den Knien im Sumpf zu versinken. Kommt man unter 1000 m Höhe, gibt es wieder Bäume, wenn man sie so nennen will. Die putzigen Nadelbäume stehen weder hoch noch dicht und bestehen hauptsächlich aus einem dünnen schwarzen Stamm. Drumherum sind von oben bis unten ein paar dürre Nadeln angeordnet. Die Bäume verbreitern sich nach unten nicht und sehen aus wie überdimensionale Pfeifenreiniger. Unter 600 m gibt es stellenweise Laubbäume wie Birken und Pappeln, aber alles nicht sehr hoch. Die Regenfälle füllen die Ebenen immer weiter auf; die Bäume scheinen aus Seen zu wachsen. Der Fluss neben der Straße kommt bereits beängstigend nahe. Er hat eine enorme Geschwindigkeit angenommen und bildet Wellen von gut und gerne einem Meter Höhe. An Hängen neben der Straße kommt es immer wieder zu Steinschlägen und Erdrutschen. Wasserfälle bilden sich, überfluten die Straße und beginnen sie wegzuspülen. Schon sind Teile der Fahrbahn herausgebrochen. Am Ogilvie Ridge Viewpoint mit traumhafter Vogelperspektive passen wir einen Moment mit etwas weniger Regen für ein Foto ab. Ein Schweizer aus Alaska informiert uns hier, dass die Straße gestern wegen der Auswaschungen bereits einmal gesperrt gewesen ist, aber wir sind durchgekommen.

Der Fahrbahnzustand wird immer schlechter. Die Oberfläche verwandelt sich so langsam in Schmierseife und tiefe Spurrillen fahren sich aus. Das Ganze gerät zur Schlammschlacht. Ich habe noch nie so viele so schmutzige Autos gesehen. Als nächstes fahren wir in die Wolken, obwohl wir gar nicht so hoch sind. Wir befinden uns jetzt mitten in den Regenwolken, das heißt wir haben Nebel und Regen gleichzeitig, was die Stimmung echt anhebt. Es ist kalt, es ist nass und wir können nichts sehen. Die nächste Stadt ist 500 km entfernt. Etwas Aufmunterung bringt Eagle Plains. Die Servicestation auf der Hälfte der Strecke besteht aus einer kleinen Pannenhilfe, einer Tankstelle (für 1,45 $/l Diesel verzichten wir), einem Hotel mit Selbstbedienungsrestaurant und kleinem Shop, sowie einem RV Park, der aus einem Stück geschottertem Parkplatz für wenige Camper besteht. Im Restaurant gibt es dünnen Kaffee und süße Teilchen als Seelentröster. Wer möchte lässt sich bereits hier eine Urkkunde für die Polarkreisüberfahrt ausstellen. Hinter Eagle Plains hat man sich nicht einmal mehr die Mühe gemacht, eine Flugzeuglandepiste neben der Fahrbahn zu bauen. Der Highway ist die Landebahn. Bei dem Nebel besteht eher keine Gefahr, dass hier jemand rum fliegt. Und nach Instrumentenlandesystem sieht es nicht gerade aus.

Bei km 406 erreichen wir 66°33’ nördlicher Breite: den Polarkreis. Das ist der südlichste Punkt, an dem die Sonne zur Sommersonnwende am 21. Juni gerade nicht mehr untergeht bzw. am 21. Dezember gerade nicht mehr aufgeht. Alle nördlicheren Gebiete werden der Arktis zugerechnet. Das ist nicht nur eine imaginäre Linie, die Vegetation verändert sich schlagartig. Vermehrt sind große Flächen einfach von gelblich-grünem Gras bedeckt, Sträucher und Bäume, selbst die „Pfeifenreinigertannen“ wachsen spärlicher, bis sie schließlich fast ganz verschwinden. Die Straße verläuft auf einer etwa drei Meter dicken isolierenden Schotterschicht über dem Permafrostboden. Als die Richardson Mountains in Sicht kommen, überqueren wir bei km 465 die Grenze zu den North West Territories. Die Uhr wird zur Abwechslung eine Stunde vorgestellt. Es gibt lediglich ein weiteres Territorium, Nunavut, das jedoch nur per Wasser oder Luft erreichbar ist. Links von uns plötzlich wilde Flucht. Wir haben einen Teil der Porcupine Karibuherde gefunden, die im hohen Norden ihre Heimat hat. Ein paar Meter weiter ist die Herde ruhiger, ein Tier mit beeindruckendem Geweih erregt unsere Aufmerksamkeit. Daneben scheinen seltsam geformte Gewächse aus dem Buschwerk zu ragen. Aber nein, es sind die riesigen Geweihe dutzender, wenn nicht hunderter liegender Karibus. Vögel gibt es natürlich auch. Eine Eule sitzt auf einem Schneepfosten am Straßenrand, auf Dunkelheit muss sie ja nicht hoffen. Wir sehen mehrere der vom deutschen Terminus abgeleitet Jaeger genannten Raubvögel, die sich von Lemmingen ernähren.

Bei dem Wetter, so sagt man, würde man keinen Hund vor die Tür jagen. Und doch steht ein Hund, traurig und mit hängenden Ohren, auf einem Parkplatz hinter einem Auto. Gassi gehen findet er momentan eine ausgesprochen unpassende Idee, zumal er das auch noch alleine tun soll. Man stelle sich einen schrecklichen Novembertag vor mit Nebel, Dauernieselregen und der entsprechenden Temperatur, nur dass sich nicht um vier Uhr nachmittags gnädige Dunkelheit über das Desaster senkt.

Von fast 500 m fahren wir in einem Stück bis knapp Meereshöhe hinunter, um mit einer kostenlosen Fähre den Peel River zu überqueren. In Fort McPherson wenige Kilometer weiter gibt es an der Co-op Tankstelle Diesel für akzeptable 1,35 $/l. Gegen Mitternacht klart es etwas auf. Es hört auf zu regnen und die Wolken verziehen sich in höhere Lagen, wo sie hingehören. Es ist so hell wie den ganzen Tag nicht, wir sollten besser nachts fahren. Die Mücken hier oben im Norden werden nicht nur größer, sie haben auch eine robustere Konstitution. Man muss sie schon mit „schlagenden“ Argumenten überzeugen, dass sie genau jetzt in die ewigen Jagdgründe eingehen wollen.

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