Inuvik, Dempster Hwy, North West Territories – Im Land der Mitternachtssonne

Was um Himmels willen tut man in einem Land, in dem man die Sonne nie sieht? Im Winter ist es dunkel und im Sommer scheint es permanent zu regnen. Das Wetter ist suizidgefährdend wie gestern: kalt, tiefe Wolken, Nieselregen in unterschiedlichen Stärken. Da kann man sich nur dem Suff hingeben – oder? Ich weiß schon, sonst ist das Wetter gaaanz anders, iss’ klar. Nur gerade jetzt… Ich erinnere mich an das Buch eines französischen Abenteurers, der mit seiner Frau und seinem Baby Nordkanada durchquert hat, zunächst mit Pferden, später mit einem Hundeschlitten. Er jammerte über wochenlangen Regen. Als dann endlich die Sonne raus kam, kamen mit ihr die Mücken, und er wünschte sich den Regen zurück. Nieselregen hat den Vorteil, dass sich die Moskitos nicht viel daraus machen, sodass man beides auf einmal haben kann!

Eine zweite kostenlose Fähre bringt uns über den MacKenzie River. Nach weiteren 130 km gehören wir zum erlesenen Kreis der Dempster-Highway-Bezwinger und sind in Inuvik. Im Western Arctic Regional Visitor Center am Ortsanfang erhalten wir dann auch eine Urkunde für diese Leistung (auf Anfrage!). Der Wetterbericht besagt Besserung für morgen und schönes Wetter für Dienstag. Außerdem erfahren wir, dass die Straße hinter uns wieder geschlossen wurde und wir erst einmal fest hängen. Da wir heute sowieso nicht zurück wollen und morgen die Welt schon wieder anders aussieht, ist erst einmal keine Aufregung. Die beiden Angestellten des Infocenters wollen sich schier kaputt lachen über unsere „Dive now – work later“-Regenjacken. Vor allem das „work later“ (arbeite später) wäre so was von passend für Inuvik. Humor ist, wenn man über sich selbst lachen kann.

An der Tankstelle bekommen wir zum ersten Mal Kontakt mit Inuvik-Preisen. Das Tanken für 1,45 $ / l lassen wir ausfallen, aber den Hochdruckreiniger für 1 $ / min benutzen wir trotzdem. Am Ende berechnet mir der junge Mann einen Zehner für die Viertelstunde. Der Liter Milch im Supermarkt liegt bei vier, fünf Dollar, ein Glas Gewürzgurken von 1 l kostet neun Dollar und eine Packung Vollkorntoast 6,50. Zum Glück haben wir in Edmonton proviantiert, bei den Preisen vergeht uns das Essen. Ich will gar nicht mehr wissen, was das Moschusochsenhack (den zähen Burschen kann man sicher nur zerhäckselt essen) und der arktische Lachs, beides lokale Spezialitäten, kosten. Frischwaren sind rar und teuer, Fleisch und Brot gibt es hauptsächlich gefroren. Lebensmittel werden in Kühl- und Vorratshäusern gelagert. Die Versorgung erfolgt per Schiff, solange die Beaufort See nicht zugefroren ist, per Flugzeug und per Lkw, solange der Dempster Highway geöffnet ist. Im Sommer überquert man die beiden Flüsse per Fähre, im Winter fährt man über Eis. Aber zwei Mal im Jahr kommt der Verkehr zum Erliegen, wenn die Eisdecke nicht dick genug ist, die Fähre aber nicht verkehren kann – im Herbst für durchschnittlich zwei Monate, im Frühjahr für einen. Dann schnellen die Preise innerhalb von Stunden hoch, erzählt ein Inuit. Der Liter Milch koste dann schon mal 27 $ (!). Regierungsangestellte z.B. verdienen, gibt er zu, das Dreifache wie in anderen Regionen Kanadas. Aber natürlich sind die Menschen hier gewohnt, von der Außenwelt abgeschnitten zu sein und können sich ganz gut selbst proviantieren. Er selbst fahre ein paar Mal im Jahr nach Whitehorse zum Shoppen. Beim Großeinkauf bunkere er Lebensmittel für 1500 $ auf seinem Pick-up, spare aber trotz Spritkosten 2000 $. Viele Menschen aber hätten Inuvik noch nie in ihrem Leben verlassen. Dichter Verkehr und andere Gefahren würden im Süden lauern! So unterschiedlich können Sichtweisen sein. Viele Inuit würden auch heute noch ihrer traditionellen Lebensweise nachgehen: Jagen im Herbst, Fallen stellen im Winter und Fischen im Sommer. Inuvik mit seinen 3500 Einwohnern, hauptsächlich Inuit, Indianer und Weiße, ist eigentlich eine recht saubere Stadt mit freundlichen bunten Holzhäuschen. Aber natürlich gibt es auch das andere, weniger schöne Inuvik mit verkommenen Hütten. Eine überdurchschnittlich hohe Anzahl alkoholisierter Menschen läuft uns am Sonntagnachmittag über den Weg, doch man muss zugeben, es sind Mitbürger aller Hautfarben.

Inuvik wurde 1953 im Mackenzie-Delta als „Ersatz“ für Aklavik errichtet, von dem man befürchtete, es würde Überflutungen zum Opfer fallen. Aklavik hat heute noch über 600 Einwohner und ist nicht untergegangen. Dennoch sind viele Menschen nach Inuvik gezogen, und der Dempster Highway verbindet es mit der Welt. Bauen auf Permafrostboden ist höchster Schwierigkeitsgrad. Die oberen Zentimeter tauen und frieren mit den Jahreszeiten, dabei hebt sich der Boden an. In Inuvik ist die Erde zwischen 90 cm und drei Meter kontinuierlich gefroren. Um Gebäude vor Zerstörung durch Erdbewegung zu bewahren, muss man sie auf Pfosten lagern, die tief im Permafrostboden verankert sind. Zwischen Erdoberfläche und Gebäudeboden ist ausreichender Abstand einzuhalten, um die Gebäudewärme abzuführen.

Am Abend fahren wir ein Stück aus Inuvik raus auf einen Picknickplatz, wo es neben Picknicktischen und einer Feuerstelle sogar kostensloses Feuerholz gibt. Es hat etwas aufgeklart, deshalb möchten wir bei einem Lagerfeuer draußen sitzen. Gegen den Mückengroßangriff helfen Abwehrspray mit hohem Deet-Gehalt (mind. 30 %), Feuerrauch und, bei den Locals abgeschaut, möglichst komplette Körperbedeckung inklusive Kapuze und Handschuhe. Viele Einheimische gehen an diesem Platz Heidel- und Moltebeeren sammeln. Moltebeeren sind in orangefarbene Früchte ähnlich Himbeeren und Brombeeren, in Europa relativ selten. Es gibt in Norddeutschland sehr geringe, geschützte Vorkommen, in Skandinavien ist sie geläufiger. Finnland hat die Moltebeere auf seinem 2-Euro-Stück abgebildet. Eine Frau geht in die Büsche, der Mann stellt sich mit dem Gewehr auf die Ladefläche seines Pick-ups. Bei einem anderen Paar begleitet der Mann mit einem Beil bewaffnet die Frau. Zwei unbegleitete Frauen laufen zumindest mit einer Beerenbimmel in die Büsche. Auf Nachfrage sagen sie, dass sie zwar beim Beeren sammeln noch nie einem Grizzly begegnet sind, aber man kann nie wissen.

Um 1:42 Uhr morgens geht in Inuvik endlich die Sonne im Norden unter, nur um gegen 4:17 Uhr nur wenige Grad weiter östlich wieder aufzugehen – endlich können wir sie einmal sehen. Das Tageslicht bleibt die ganze Zeit erhalten.

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