Prudhoe Bay, Alaska – Wendepunkt: mit den Füßen im Nordpolarmeer

Die kleinen Vögel sehen aus wie Spatzen, tschilpen nur ein bisschen hübscher. Die Sonne ist um 0:40 Uhr unter- und um 3:19 bereits wieder aufgegangen, was die Piepmätze zum Anlass genommen haben, auf unserem Dach herumzutrippeln. Man gebe mir eine Schrotflinte. Leider sind in dieser Gegen Schusswaffen verboten (außer für den Sicherheitsdienst), jagen darf man nur mit Pfeil und Bogen. Verständlich, Löcher in der Pipeline machen sich nicht so gut. Zugvögel gibt es jede Menge hier oben, aber die Zeit ist kurz. Ein Schwanenpaar zieht seine drei Küken groß, sie sind vielleicht einen Monat alt. Wegen des kalten Frühjahrs sind sie erst spät geschlüpft. Ob sie es wohl bis zum Wintereinbruch schaffen? Am 70. Breitengrad Alaskas werden Temperaturen von bis zu 38° im Sommer und -62° C im Winter gemessen. Die einzigen Vögel, die mit derartigen Schwankungen umgehen können und hier überwintern, sind die cleveren Raben, die zu jeder Zeit Nahrung finden können.

Der Sicherheitsoffizier ist Mädchen für alles. Pünktlich auf die Minute um acht Uhr  startet er den einführenden Videovortrag. Er fährt den Bus, mit dem wir transportiert werden und er ist die Reiseleitung. Wie die meisten Ortsansässigen gehört er den Inupiat an, wie die Eskimos in diesem Teil heute genannt werden. Die meisten anderen Arbeiter stammen aus Fairbanks oder Anchorage, wohin die Öl und Gasfirmen regelmäßig Mitarbeiterflüge anbieten. Der überwiegende Teil der Angestellten arbeitet in Zwei-Wochen-Schichten, einige auch in Ein- oder Drei-Wochen-Schichten. Das bedeutet, sie haben zwei Wochen lang 12-Stunden-Dienst ohne freien Tag und dann zwei Wochen frei. In ihrer Abwesenheit übernimmt ein Pendant den Job. Klingt erst einmal verlockend, aber wenn man es umrechnet, bedeutet das bei einer Fünf-Tage-Woche 8,4 Stunden tägliche Arbeitszeit. Trennung von der Familie, klimatische Bedingungen, teure Lebenshaltung, wenig Unterhaltung – hoffentlich macht das Gehalt das wett. 3.200 Menschen arbeiten alleine auf den Ölfeldern, mit Deadhorse zusammen sind es 5.500, und noch einmal so viele haben gerade frei.

Karibus laufen ungeniert durchs Dorf, während wir mit dem Bus herumfahren. Im Ort dürften sie unbehelligt bleiben, denn draußen ist die Jagdsaison seit drei Tagen eröffnet. Nach der Sicherheitsschranke zum Prudhoe Bay Ölfeld stehen nochmals mehrere tausend Unterkünfte. Mittlerweile gibt es 1.400 Bohrköpfe, die Erdöl und nebenbei auch Gas fördern. Das Feld wurde 1968 entdeckt. 1977 begann man mit der Förderung, nachdem die Pipeline in den ganzjährig eisfreien Hafen von Valdez im südlichen Alaska fertig gestellt worden war. Während die Leitung gut isoliert ist, um das Erdöl warm und damit flüssig zu halten, sind auf vielen Pipelineträgern Radiatoren zur Kühlung angebracht, damit sie den Permafrostboden nicht auftauen und einsinken. An den Leitungen hängen stellenweise Gewichte, um ein Vibrieren bei Starkwind einzuschränken. Viel Niederschlag gibt es in der „arktischen Wüste“ nicht, im jährlichen Mittel die Hälfte von Phoenix / Arizona. Und da ist es schon trocken. Der stürmische Wind aber kann im Winter den wenigen Schnee so aufwirbeln, dass die Sicht gen Null tendiert. So haben alle Mitarbeiter im Winter Sonderbedingungen: Bei Stufe eins dürfen sie sich normal draußen bewegen. Stufe zwei besagt, dass nur noch im Konvoi mit Pilotfahrzeug gefahren werden darf und bei Stufe drei ist das Verlassen von Gebäuden streng untersagt. Das Problem ist, dass sich die Witterung innerhalb von Minuten ändern kann. Zu der Zeit ist die Beaufortsee zugefroren und man kann über Eis fahren. Jetzt aber bekommen wir Handtücher und können unsere Füße oder auch mehr im arktischen Ozean baden. Er kommt mir milder vor als vermutet, dabei sollen es nur 4° sein. Kein Wunder, das Packeis schwimmt 3 km vor der Küste, der Nordpol ist nur noch 1.900 km entfernt. Die ganze Veranstaltung dauert zweieinhalb Stunden. Die 45 $ pro Person dafür sind nicht wenig, aber eine lohnenswerte Investition. Es gibt viele Informationen über die Ölförderung, aber auch über Natur und Umwelt, man kann ein Ölfeld besichtigen, was sonst kaum möglich ist, und man hat Zugang zum Nordpolarmeer.

Ab jetzt geht es für uns lange, ganz lange Zeit in Hauptrichtung Süden. Auf dem Rückweg sehen wir nochmals zwei Moschusochsenherden und verfolgen eine davon zum Fotografieren. Leider sind wir etwas unvorbereitet und heute weht weniger Wind als gestern. Wenig genug, dass die Mücken sich nicht daran stören. Wir machen erstmals richtig Bekanntschaft mit den vielgerühmten Alaska-Moskitos. Ja, groß sind sie. Viel erschreckender aber ist ihre Anzahl. Sie lassen sich sofort zu Dutzenden auf unseren Jacken nieder, hunderte umschwirren unsere Köpfe und stechen in die wenigen unbedeckten Körperstellen: die Hände, die Kopfhaut, das Gesicht, die Ohren. Leider vergessen die Mädels (es sollen ja nur die Weibchen stechen) manchmal, ihr Betäubungsmittel einzuspritzen, sodass schon der Stich äußerst schmerzhaft ist wie bei einer Wespe. Nein, lustig ist das nicht. Und möglicherweise nicht der Ort meiner Wahl, mich niederzulassen.

Eine Kuriosität muss ich noch loswerden: Alaska ist der nördlichste, westlichste und östlichste US-Bundesstaat. Die beiden ersten Attribute leuchten ja ein. Aber östlich? Ein Teil der zu Alaska gehörenden Aleuten geht über die Datumsgrenze hinweg und befindet sich damit östlich des Restes der Vereinigten Staaten.

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