Capitol Reef National Park, Utah – Das Unwesen des Muddy River

Selten habe ich mich so alleine gefühlt wie heute Nacht. Alleine im positiven Sinne. Kein Highway in der Nähe, kein Fahrzeug, kein Licht, keine Siedlung, kein Mensch. Sicher nicht einmal viele Tiere. Nur Myriaden von Sternen blinken von einem tiefschwarzen Himmel; der Mond ist bereits untergegangen. Diese Gegend gilt als eine der dunkelsten, da am wenigsten besiedelten, der Vereinigten Staaten und wird daher zur Sternbeobachtung genutzt.

Am Morgen versuchen wir, uns doch noch irgendwie zum Hwy # 24 in Richtung Capitol Reef National Park durchzuschlagen. Statt des Vierradtracks von gestern wählen wir die Country Road # 1012, eine sogenannte Hauptverbindungsstraße. Sie schlägt einen etwas größeren Bogen als die Piste von gestern, scheint uns aber ausreichend wichtig, um gepflegt zu sein und uns das Durchkommen zu ermöglichen. Sie beginnt mit Asphalt und wird rasch zu Schotter, aber frisch planiert. Wir fahren und fahren. Die Straße wird schlechter, die Straße wird enger. Immer öfter haben Bäche beim letzten Regenguss Teile der Piste weggespült. Irgendwann wird ein Querriss in der Fahrbahn zu groß, um ihn zu passieren. Jörg schleppt riesige Steine an, um die Löcher zu füllen und uns eine Brücke zu bauen. Es wird noch enger und noch schlechter, Reifenspuren weisen darauf hin, dass Fahrzeuge hier gewendet haben. An den wenigen Schautafeln am Wegesrand wurden sämtliche Landkarten abgerissen, und die verbleibenden Informationen beziehen sich auf Kajak- oder Kanufahren; sonst gibt es keine Hinweise. Noch ist nicht der Punkt aufzugeben, aber weit kommen wir nicht. Die Straße ist einfach nicht mehr da, nicht existent. Wir versuchen es an zwei verschiedenen Stellen. Etwas höher am Berg befindet sich nur noch eine dutzende Meter hohe Abbruchkante, die Piste führt in den Abgrund. Weiter unten sieht es aus als ob der Track neben und zum Teil durch das Flussbett geführt hat. Dort allerdings fließt jetzt ein Fluss. Und der scheint ausreichend tief zu sein. Irgendjemand war so nett, vor der auch hier vorhandenen, wenn auch kleineren Abbruchkante ein paar Steine hinzulegen, damit man nicht hinunterplumpst. Der Muddy River, „schlammiger Fluss“ – alleine schon welch unsympathischer Name – hat die Straße einfach ins Nirwana gebeamt. Umkehren ist angesagt.

Abenteuer machen dann Spaß, wenn sie begrenzte Herausforderungen bieten, wenn sie gewürzt sind mit einer Prise scheinbarer, aber nicht realer Gefahr, und wenn am Ende alles klappt und man sich selbst stolz auf die Schulter klopfen kann, wie toll man das gemeistert hat. Die Realität sieht oft anders aus, nicht immer klappt alles. Den Frust müssen wir ertragen können, sonst sollten wir uns besser auf ausgetretenen Pfaden bewegen oder uns einer geführten Reisegruppe anschließen – was nicht schlecht sein muss. Noch wichtiger ist der Umkehrpunkt: zu entscheiden, wann Schluss ist, Zeit abzubrechen. (Ziemlich eindeutig, wenn man vor einer Abbruchkante steht, aber nicht immer ist es so einfach.) Es ist sehr schwer, sich die absolute Abgeschiedenheit von Utahs Wüsten vorzustellen, diese Verlassenheit und Menschenleere. Es könnte eine Weile dauern, bis einen hier jemand findet, sollte man ein Problem haben, oder bis man Hilfe organisiert. Handy- oder Internetempfang haben wir schon seit Tagen nicht mehr.

Wir treten einen langen, langen Rückweg an, doch der anschließende Umweg, den wir zum Capitol Reef Park fahren müssen, ist noch weiter. Über die I 70, Hwy # 72 und # 24 fahren wir schließlich von Westen her in den Park ein. Auch hier wissen die Ranger nichts über das Desaster am Muddy River. Aber im September und Oktober kam es später als sonst während der jahreszeitüblichen Gewitter zu ungewöhnlich starken Regenfällen, besonders heftigen Springfluten und dementsprechenden Überschwemmungen. Die Jeepstrecke in den Norden des Parks ins Cathedral Valley ist seither unpassierbar und noch nicht wieder hergerichtet. Unsere Lust auf Experimente ist für heute sowieso erschöpft. Wir nutzen das wenige verbleibende Tageslicht zum Abfahren des Scenic Drive, der Panoramastraße, vorbei an Monolithen, durch Canyons und neben den farbigsten Wänden. Als hätte ein LSD-angeregter Künstler die gelben und roten, beigen und braunen, weißen und grauen, türkisen und violetten, orangen und schwarzen Streifen und Wirbel aufgemalt.

Der Fruita Campground im Park hat ein Problem mit den Toiletten. Es wurden Chemieklos aufgestellt, dafür wird auf die Platzgebühr – sonst 10 $ – verzichtet. Niemand wird uns heute Nacht hier Gesellschaft leisten, außer den Maultierhirschen. Hirsche scheinen Campingplätze irgendwie zu mögen. Rund um den Campingplatz befindet sich das historische Mormonendorf Fruita aus dem späten 19. Jahrhundert. Einige Gebäude wie Schule, Schmiede und ein Farmhaus wurden restauriert. Die Obstgärten entlang des Freemont River werden weiterhin gepflegt, und zwischen Juni und Oktober kann man kostenlos (zum Verzehr) oder preisgünstig (zum Mitnehmen) Äpfel, Pfirsiche, Kirschen, Birnen und Aprikosen pflücken.

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