Colón, Panama – Im Dschungelzug nach Colón, der Stadt des Elends

Colón ist eine Insel. Eine Insel aus Armut und Elend, Hoffnungslosigkeit und Zerfall. Colón ist acht Straßen breit und 16 Straßen lang. Acht mal 16 Straßen Unwürdigkeit und Dreck, Kriminalität und Gewalt. Es ist kein Elendsviertel in einer Stadt, die Stadt IST ein Elendsviertel. Umgeben ist diese Insel von unverschämtem Reichtum, der keinen Tropfen davon durch die überwachten Zäune sickern lässt. Da ist zum einen der Panamakanal, der milliardenschweren Reichtum in die Taschen der jetzt schon Reichen spült. Insgesamt vier Häfen gehören zu den großen Warenumschlagplätzen dieser Erde. Und die Freihandelszone lockt Geschäftsleute und Geschäftemacher aus aller Welt an. Nur wenige der 65.000 Einwohner Colóns haben die Chance, einen schlecht bezahlten Job in einer dieser Wirtschaftszonen zu erhalten. Die anderen Arbeitskräfte kommen aus den besseren Gegenden um Colón oder pendeln täglich aus Panama-Stadt. Die Arbeitslosigkeit in Colón beträgt geschätzte 60 %, was unweigerlich zu Prostitution, Drogenproblemen und Gewaltverbrechen führt.

Die Bevölkerung ist fast ausschließlich schwarz, durchmischt mit wenigen Indianern und Einwohnern chinesischer Abstammung. Für den Eisenbahn- und später den Kanalbau hatte die Regierung jeweils Afrokariben als billige Arbeitskräfte angeheuert, die sich erhofft hatten, als Gastarbeiter Geld zu machen und später als „gemachte“ Leute ins Heimatland zurückkehren zu können. Daher integrierten sie sich kulturell nicht und lernten meist nicht einmal die Landessprache Spanisch. Später traf chinesische Gastarbeiter das gleiche Schicksal. Nachdem man sie nicht mehr brauchte, überlies man sie sich selbst. Ohne Geld, in die Heimat zurückkehren zu können, ohne Ausbildung und Einkommen, strandeten sie in Colón. Die Regierung, welcher Partei auch immer, zeigt kaum Interesse, die hochexplosive Lage der Stadt zu ändern. Fairerweise muss man zugeben, dass das auch für die meisten Bewohner gilt. Auch sie unternehmen keinerlei Anstrengung zur Verbesserung ihrer Lage. Resignation verbreitet sich von Generation zu Generation, und so stehen Schule, Ausbildung und Verbesserung der eigenen Chancen ganz unten auf der Prioritätenliste.

Heute kommen wir mit dem Zug in Colón an. Die ursprünglich für den Güterverkehr konzipierte Strecke bietet einen Personenzug morgens von Panama-Stadt in Richtung Norden und einen am Abend zurück an. Pendler nutzen ihn genau wie Touristen. Für 22 $ pro Person fährt man die 70 km einfach. Teuer zwar, aber dafür erhält man Einblicke, die man auf der Straße nie bekommt: Mehrfach kommt man dem Panamakanal und damit dem Schiffsverkehr nahe, man fährt mitten durch den Dschungel, und den Gatunsee überquert man auf einem Damm. Nach einer Stunde sind wir in Colón.

Ein Lichtblick in der Spirale des Elends sind die Sisters of Mercy, die Barmherzigen Schwestern. Wir erkennen sie sofort, als sie uns mit ihrem Auto vom Bahnhof abholen, obwohl sie keine Nonnentracht tragen. Ein praktischer Jeansrock, ein schlichtes T-Shirt und Birkenstockschuhe ersetzten die warme und unpraktische Uniform. Eine Kopfbedeckung gibt es nicht. Schwester Barbara und Schwester Dina sind die einzigen Nonnen, die sich um das von Barb, wie sie sich kurz nennt, gegründete Haus mit dem Namen MUCEC kümmern. Die beiden haben ihr Leben den Kindern und Frauen, den Armen und Ärmsten von Colón gewidmet. Wer sich nun frömmelnde Betschwestern vorstellt, die gütig und huldvoll Gaben verteilen, irrt völlig. Mitfühlend sind die beiden, und großzügig mit ihrer Liebe: Selbst die Kinder auf der Straße umarmen und küssen sie freudig. Ansonsten aber sind Barb und Dina ein resolutes, straff organisiertes Managerteam im täglichen Kampf um die Finanzierung des Projekts.

Nicht immer war die soziale Organisation in einem so modernen großen Haus untergebracht. Das neue gibt es erst seit zehn Jahren. Hauptanliegen der Barmherzigen Schwestern von Colón ist die frühkindliche Förderung von vernachlässigten, verlassenen oder unterernährten Kleinkindern, die sonst vielleicht auf der Straße landen würden. So wird so manches kleine Genie entdeckt, und zurückgebliebene Mädchen und Jungs können gezielt therapiert werden. Der Kindergarten betreut verschiedene Altersstufen. Ist die Freude am Lernen erst einmal geweckt, besteht eine gute Chance, dass die Kinder ihre Schulbildung beenden und vielleicht sogar später eine Universität besuchen. Das komplette Bildungssystem in Panama ist kostenlos, bei Bedürftigkeit unterstützt die Einrichtung mit Schuluniformen.

Die Schwestern suchen in der Stadt nach vernachlässigten Kindern, folgen Hinweisen und versuchen, die Mütter zu überzeugen, ihre Sprösslinge tagsüber der Obhut des Heimes zu überlassen. Mütter, die ihren Nachwuchs von sich aus in den Kindergarten bringen, werden nie abgewiesen. Gehen die Kinder später zur Schule, dürfen sie weiterhin zur Hausaufgabenbetreuung ins Heim kommen. In Panama wie im Rest Mittelamerikas können Schüler bzw. deren Eltern wählen, ob sie vor- oder nachmittags zum Unterricht gehen. MUCEC-Kinder können jeweils die andere Tageshälfte im Hort verbringen, was viele dem eigenen trostlosen Zuhause vorziehen. Ob Kindergartenhüpfer oder Schüler, ihre wichtigste Aufgabe sehen die Sisters of Mercy in der Verteilung von Essen. Jedes Kind erhält zwei Mahlzeiten täglich, und oft genug sind dies die einzigen zwei Mahlzeiten des Tages.

Die panamaische Gesellschaftsstruktur bedingt, dass Väter – Oberschicht ausgenommen – sich selten verantwortlich fühlen für ihren Nachwuchs. Selbst die meisten verheirateten Männer haben eine oder mehrere Freundinnen nebenher, mit denen sie ebenfalls Kinder zeugen. Ohne Geliebte gilt der Mann nicht als ganzer Kerl. Die Scheidungsrate ist hoch. Und so besitzt die Mehrheit der panamaischen Kinder nur einen, allein verantwortlichen weiblichen Elternteil. Diese „Normalität“ bedingt zumindest, dass Vaterlosigkeit sozial nicht ausgrenzt und gesetzlich nicht benachteiligt wird. Das Problem der Mütter Colóns ist, dass sie ohne Bildung und Selbstwertgefühl aufwachsen. Ihre Kinder zu ernähren, ist tägliche Herausforderung. Und so widmet sich MUCEC auch den Müttern, versucht ihnen Selbstbewusstsein zu vermitteln, das Selbstvertrauen, etwas lernen zu können und dies später auch anzuwenden. In einer Werkstatt wird den Frauen Nähen, Sticken und anderes Kunsthandwerk beigebracht, das sie später verkaufen können. Ein Vortrag jeden Freitag widmet sich speziellen Themen, die die Frauen interessieren könnten: Gesundheit und Hygiene, Erziehung, Yoga und anderes Fitnesstraining, es kann auch mal ein christliches Thema sein.

Nachdem wir sämtliche Hortgruppen besucht, umarmt und beknutscht haben – die Kinder sind extrem liebesbedürftig – geht es nach draußen. Schwester Barbara zeigt uns „ihre“ Welt. Vor der Tür sitzen drei Kunafrauen, nähen und verkaufen ihre Molas, genähte Bilder aus geometrischen Formen. Die Karibikindianerinnen tragen stolz ihre bunte Tracht: eine Bluse, die mit Molas verziert ist, einen kurzen engen Rock, der nur aus einem gewickelten Tuch besteht, sowie an den Unterarmen und Beinen bis in Wadenhöhe unzählige Reihen dünner Perlenketten, die sie nie ablegen. Ihr kurzer topfartiger Einheitshaarschnitt ist etwas gewöhnungsbedürftig, manchmal werfen sie zum Schutz vor der Sonne ein kleines Tuch darüber.

Nur wenige Meter weiter eröffnet sich das ganze Elend dieser Stadt. Halb eingefallene Häuser werden dennoch bewohnt, selbst wenn der Fußboden bereit ein gefährliches Loch aufweist. Kaum ein Haus ist in besserem Zustand. Jede Wohnung besteht aus einem einzigen, winzigen Zimmer, in dem eine ganze Familie kocht, isst, schläft. Stellenweise wurden simpelste Holzverschläge gebaut, die denselben Zweck erfüllen. Bäder gibt es keine. Für jeweils 50 bis 60 Bewohner gibt es zwei oder drei Gemeinschaftstoiletten und ebenso viele Duschen, die nicht funktionieren. Die Menschen hier haben nie gelernt, wie man eine Wasserspülung bedient. Fließendes Wasser ist ein Ereignis. Sofort werden die Bäder gestürmt, Kinder und Wäsche gewaschen. Trotz allen Drecks tragen die Bewohner erstaunlich saubere Kleidung.

Schwester Barbara stellt uns den Colónern als Familienmitglieder vor. Nicht, um uns zu schützen, das ist in ihrer Begleitung nicht notwendig, doch so erhalten wir mehr Respekt, dürfen ein paar Bilder schießen und die eine oder andere Tür öffnet sich unserem Blick. Wer es sich leisten kann, stellt sich ein Stockbett ins Zimmer, andere schlafen auf dem Boden. Möbel gibt es nur wenige, höchstens ein paar Matten und einen Gaskocher. Die Menschen mögen kein Geld fürs Essen zu haben, aber wer es irgendwie ermöglichen kann, kauft oder klaut sich einen Fernseher, dazu gibt es eine Satellitenschüssel. Der Strom, der in Panama sehr teuer ist, wird irgendwo illegal abgezapft. Miete bezahlen die meisten Einwohner nicht.

Barbara spricht mit einer ganz jungen Frau. Diese hat zwei Kinder und prostituiert sich. „Was soll ich machen“, sagt sie, „wie soll ich meine Babys sonst ernähren?“ „Ganz einfach“, meint Barb, „keine Kinder in die Welt setzen.“ Und das aus dem Mund einer katholischen Nonne. Eine ältere Frau sitzt rauchend auf einem Plastikstuhl am Bürgersteig. Genau diese Frau hatte Barbara vor ein paar Tagen um Kleidung angebettelt, die sie nicht bezahlen könne. Die Schwestern betreiben in ihrem Haus einen Secondhand-Laden, wo sie gespendete Kleidung für einen symbolischen Betrag verkaufen, doch nie umsonst hergeben – zu hoch ist die Chance der Ausnutzung. Wer nicht einmal 25 Cent erübrigen kann, putzt die Treppe oder wischt den Boden. Barbara verbirgt ihre Empörung und spricht die alte Frau an, der es offensichtlich peinlich ist, beim Rauchen ertappt worden zu sein. Geld für Luxusartikel auszugeben statt für lebensnotwendiges Essen kommt häufiger vor. Eine weitere als bettelarm bekannte Frau läuft uns über den Weg. Unter ihrem Kopftuch lugen rot gefärbte Zöpfchen heraus. Es gibt auch ehrlich verdientes Geld. Ein Mann verkauft Obst und Gemüse zu Billigstpreisen. Eine Frau hat sich ein Erdgeschosszimmer angemietet, kocht Suppe, und verkauft sie für 50 Cent pro Teller. Eine Familie züchtet Hühner. Sie schlachtet gerade ihren Hahn, der von einem Auto überfahren wurde.

Schwester Barbara kam erstmalig 1964 aus Brooklyn als junge Nonne an die Karibikküste Panamas. 1971 wechselte sie nach Chiriqui. Die dort lebenden Indianer baten sie, ihnen Lesen beizubringen. In der Konsequenz stellten sie fest, dass ihnen laut Arbeitsgesetz zustehende Leistungen für Überstunden oder Sonntagsarbeit als Erntehelfer nicht ausgezahlt wurden. Ihr Vorarbeiter behielt die Zulagen ein. Der Großgrundbesitzer machte Barb für die entstandenen Unruhen verantwortlich und beschwerte sich beim Bischof. Natürlich machte sie sich wenige Freunde auf diese Art. Eine Rückkehr in die USA kam für sie nicht in Frage und ihre einzige Chance erhielt sie 1985 im gewalttätigen Colón. Entsetzt über das Elend einer ganzen Stadt – das nach Abzug der Amerikaner noch schlimmer wurde – begann sie sofort mit dem Aufbau des MUCEC-Projekts, ihrem Lebenswerk. Auch heute noch steckt sie all ihre Energie in den täglichen Kampf um die Finanzierung und damit das Überleben des Heims. Schwester Dina ist ein Kind Colóns. Die studierte Psychologin stieß vor vielen Jahren zu Barbara. Ihre beiden Elternteile arbeiten ehrenamtlich, wie viele andere engagierte Bürger der Stadt, am Projekt mit.

Wer einen noch so kleinen Beitrag leisten möchte, diese beiden unglaublichen Frauen bei ihrer Arbeit zu unterstützen, findet unsere E-Mailadresse auf unserer Website. Wir leiten Euch dann gerne die E-Mailadresse des Centers weiter oder helfen bei der Übersetzung, falls nötig.

Leave a Reply

You must be logged in to post a comment.