Bagua, Peru – Eine rustikale Grenze

„Warum kommen alle Touristen immer am Wochenende, wo nichts funktioniert?“ mokiert sich der peruanische Grenzbeamte. Nun, so viele werden es auf dieser einsamen Strecke schon nicht sein, dass ihm das echtes Kopfzerbrechen bereiten müsste. Auch die letzten 25 km von Zumba nach La Balsa führen abenteuerlich und rutschig durch nicht enden wollende grüne Berglandschaften. Der ecuadorianische Zollbeamte begrüßt uns mit ausgesprochener Höflichkeit. Sein Internet funktioniert allerdings nicht, wenigstens kommt er mit seinem Satellitentelefon (seinem einzigen Kommunikationsmedium) nach dem zehnten Versuch durch, um sich bei seiner vorgesetzten Behörde zu erkundigen, ob er uns auch ohne die vorgeschriebene Prozedur ausreisen lassen kann. Das ist kein Problem, doch da gibt es noch etwas: Ob er unseren Camper sehen dürfte? Kein Problem, der Inhalt interessiert nicht, wir müssen ihn nur mit seinem Handy vor, hinter und im Auto fotografieren. Allzu oft bekommen die Grenzbeamten hier Gringos wohl nicht zu sehen.
Das macht sich vor allem bei der Migración bemerkbar. Der Grenzpolizist versteht bis zum Schluss nicht, ob wir eigentlich ein- oder ausreisen. Obwohl ich es ihm mehrfach –wie ich zumindest annahm – in verständlichem Spanisch erklärte. Schließlich behält er vorschriftsmäßig unsere Einreisekarten ein, einen Ausreisestempel gibt es selbst auf Nachfrage nicht. Da es in einigen Ländern keinen Ausreisestempel gibt, mache ich mit weiter keine Gedanken. Gegenüber wechselt der kleine Laden US-Dollar in Nuevo Soles, die peruanische Währung. Ein PEN entspricht ungefähr 0,27 €. Die blutjunge Kassiererin sieht Jörg verträumt an. Ihr Traumprinz müsste nicht einmal besonders hübsch oder reich sein – wenn er sie nur aus diesem verlassenen Nest herausbrächte.
Auf der 2004 eingeweihten internationalen Brücke überqueren wir den gurgelnden Grenzfluss, früher musste man eine Fähre nehmen – la balsa. Daher der Name der beiden winzigsten Grenzorte: La Balsa auf ecuadorianischer und La Balza auf peruanischer Seite. Hier erwartet uns ein heftigst Zuckerrohr kauender Zöllner. Er verleibt sich den Baumstamm ein wie ein Mahlwerk, mit beängstigender Geschwindigkeit verschwindet Stück für Stück in seinem Schlund. Wir sollen erst zur Migración, weist er uns an. Dank Microsoft befindet sich auf allen PCs weltweit das Kartenspiel Solitaire und rettet damit gelangweilten Grenzbeamten das Leben. Gnade gibt es trotzdem keine: ohne Ausreisestempel kommen wir hier nicht rein.
Also laufen wir zurück über die Brücke und suchen die Leuchte von Grenzpolizist erneut auf mit der Bitte um den entsprechenden Stempel. „Reisen Sie ein oder aus?“ Zuviel Sonne, zuviel Rum oder zuviel Coca, das ist hier die Frage. Der Beamte hat zwei Stempel zu Auswahl, die er interessiert begutachtet, ohne zu einem Schluss zu kommen. Heiliger Manitu, hilf mir! Nein, besser hilf ihm! Ich suche mir den Stempel aus, auf dem Salida steht und zeige mit dem Finger genau auf die Stelle, wo der Stempel hin soll, da die Beamtenhand schon bedrohlich über eine jungfräulichen Reisepassseite schwebt.
Ausgestattet mit dem passenden Stempel steht unserer Einreise nach Peru nichts mehr entgegen. Auch wenn wir uns ellenlange Vorträge über die Vorzüge peruanischer Sehenswürdigkeiten und die Anzahl der Mikroklimas (108) anhören müssen. Dauerlächeln und interessierter Gesichtsausdruck bewirken auch hier Wunder: Die Einreise, die normalerweise für maximal 90 Tage bewilligt wird und später gegen Gebühr auf sechs Monate verlängert werden kann, wird von vorneherein auf die Maximalzeit von 183 Tagen festgelegt. Ob wir das brauchen werden, ist dahingestellt.
Der Zöllner raspelt noch schnell ein Stück Zuckerrohr ab, spuckt die Fasern durchs Fenster aus und legt den Rest des Stängels mit bedauerndem Blick zur Seite. Sogenannte Zuckerameisen, sehr kleine und extrem flinke sechsbeinige Tropenbewohner sausen zu Hunderten begeistert in dem Büro umher. Ihre vermutlich sonst hörbaren Freudenschreie werden nur übertönt vom fußballfeldgroßen Flachbildschirm, auf dem abwechselnd die Übertragung der diesjährigen Dakar-Rallye, die am 15. Januar in Lima endet, und Reportagen über touristische Attraktionen flimmern. Das Internet geht auch hier nicht, wie immer am Wochenende, klagt der Zollbeamte. Wieder und wieder versucht er, eine Verbindung mit dem Browser herzustellen – vergeblich. Das kommt davon, wenn man in einem Entwicklungsland geduldiges und zuverlässiges Papier abschafft und sich an moderner Technologie versucht.
Auf der anderen Seite geht das Internet auch nicht, versuche ich ihn zu trösten, doch er winkt ab. „Da drüben funktioniert sowieso nichts. Und außerdem sind die eh alle plemplem.“ Soso. Er erzählt uns von seinen 16 Kindern. „Aber nicht mit einer Frau“, meine ich schelmisch. „Nein, mit vielen!“ Alleine mit seiner jüngsten Frau habe er vier Kinder: drei, vier, sieben und 12 Jahre. Vermutlich hat er den gesamten, nicht verheirateten weiblichen Bevölkerungsteil des Weilers geschwängert. Als er uns schon anbietet, ein manuelles Zollpapier auszustellen, startet er einen letzten Versuch, und plötzlich klappt die Internetverbindung. Umständlich muss er die temporäre Importbescheinigung ausdrucken, die allerdings nur für drei Monate gilt. Beide Grenzabfertigungen sind kostenfrei. Nun kann sich der Zöllner behaglich dem Rest seines zuckersüßen Knabberstabs widmen. Trotz technischer Schwierigkeiten sind wir in 1:45 Stunden durch.
Die Erdstraße verbessert sich bis San Ignacio zusehends, wo nach 48 km auf peruanischer Seite die erste Tankstelle steht: eine auf der Nordseite (S 05°08’45.0’’ W 79°00’33.1’’), mehrere am Südende. Bis zum Begin einer perfekten Asphaltstraße, der Carretera Marginal de la Selva, vergehen weitere 100 km, macht insgesamt rund 245 km Piste. Die Natur ist jedoch alle Mühen wert: Die Berge sind äußerst massiv, aber grün bewachsen, ein wilder Fluss schlängelt sich durchs manchmal sehr enge Tal, das er sich mit der Straße teilt. Über Jaén fahren wir bei Chamaya auf die Carretera Transandino # 5 nach Osten, wo wir kurze Zeit später auf die erste Mautstation stoßen.
Lkw zahlen pro Achse so viel wie ein ganzer Pkw, immerhin 5,10 PEN (1,40 €). Freundlich fragen wir, wie viel wir zahlen müssten, da wir doch ein Wohnmobil seien. Die Dame ist ratlos, verlangt die Quittung der letzten Zahlstelle, die wir nicht haben können, fragt Kollegen, verlangt schließlich die Fahrzeugpapiere, was sie auch nicht weiterbringt. Schließlich zuckt sie die Achseln und lässt uns weiterfahren ohne zu bezahlen. Welch Unterschied zu Kolumbien, wo alles immer eine schwierige Diskussion war. Östlich des Ortes Chamaya bei Bagua gibt es eine Lkw-Waage, die hier nicht mehr bascula, sondern balanza heißt. Auf Nachfrage dürfen wir hier übernachten. Entgegen unserer Befürchtungen wird die Nacht doch ruhiger, da der Lkw-Verkehr einschläft und die Waage demzufolge ihren Betrieb niederlegt, ihre Lautsprecherdurchsagen einstellt und sogar den Stromgenerator abschaltet. Der nachts einsetzende Regen kühlt die 30° hinunter, wir befinden uns nur noch auf 450 m.
Vorher jedoch beobachten wir eine Szene, die so typisch ist für diese Länder, die es nie geschafft haben, Korruption im Zaum zu halten. Ein Viehtransporter muss zur Nachkontrolle, da seine Ladepapiere offensichtlich nicht mit seinem Gewicht übereinstimmen. Auf dem Parkplatz strömt zunächst eine erstaunliche Anzahl Passagiere aus dem Fahrerhaus. Von einer zweiten Ebene über der Ladefläche, versteckt unter einer Plane, klettern mehr und mehr Menschen, insgesamt ein gutes Dutzend, und laufen in Richtung Straße auf der Suche nach einer neuen Mitfahrgelegenheit. Der Fahrer und der Wagenkontrolleur pressen sich ganz eng an die Mauer des Kontrollhäuschens. Ein paar Scheine wechseln den Besitzer, dann macht sich der Viehtransporter wieder auf den Weg.
Staatliche Wiegestation Bagua, S 05°43’52.6’’ W 78°38’19.4’’, Toiletten vorhanden

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