Leimebamba + Achupas, Peru – Der Erdrutsch

An einem Freitag, dem 13., fragt man sich schon beim Aufstehen, was der Tag wohl bringen mag. Es regnet Bindfäden, was in den peruanischen Anden einfach kein gutes Gefühl erzeugt, sonst verlaufen die 38 km zurück bis zur PE 08 und die folgenden 54 km bis Leimebamba ereignislos. Einige Kilometer südlich des Ortes hat die Österreichische Archäologische Gesellschaft ein ganz erstaunliches Museum erbaut (S 06°43’27.1’’ W 77°47’53.9’’). Schon die Architektur und das aufwändige Dach mit den vielen Giebeln sind preisverdächtig. Die Exhibitionen sind professionell und teilweise sogar mehrsprachig beschriftet.

Gezeigt werden Alltagsgegenstände wie Keramik, Kämme und Schmuck aus der Chachapoyas-Kultur sowie die einmaligen Quipus. Das sind mathematische Knotenschnursysteme, mit denen Fachleute Zahlen, Daten und Statistiken festhalten konnten. An einer dickeren Hauptschnur hingen unterschiedlich gefärbte und verschieden lange Nebenschnüre, die Bestände wie Lamas, Ernteerträge, Edelmetalle oder Steuern symbolisierten. Unterschiedliche Knoten und ihre Lage auf der Schnur kennzeichneten Einer, Zehner, Hunderter und Tausender. Die Spanier, die das System möglicherweise nicht durchschauten, verboten die Knotenschnüre und vernichteten die Bestände. Weltweit verblieben nur etwa 800 Exemplare, die Hälfte davon im Ethnologischen Museum in Berlin.

Ein paar Quipus sind auch in Leimebamba zu sehen, der Höhepunkt aber sind Mumien, die bei der nahegelegenen Laguna de los Condores gefunden wurden. Die Toten wurden nach Chachapoyas-Art beigesetzt in Hockstellung und in Tücher eingewickelt. Außen wurde ein stilisiertes Gesicht aufgemalt, gestickt oder mit dünnen Schnüren aufgenäht. Die Mumien sind in einem Klimaraum hinter Glas ausgestellt. Einige von ihnen wurden, um das Grausen perfekt zu machen, ausgewickelt, sodass man sogar ihre perfekten Gebisse bewundern kann. Eintritt in dieses wunderbare Museum, das in dem Hinterweltsdorf so fehl am Platz wirkt wie ein Springbrunnen in der Wüste, kostet 10 PEN pro Person (€ 2,70). Gegenüber befindet sich der Zugang zum Kentikafé, das einem Mitglied der österreichischen Baukommission gehört. Kuchen gibt es heute leider keinen, aber einen Capuccino bereitet man uns zu.

Die Straße wird schmäler und etwas schlechter, als wir weiterfahren, das Flusstal verlassen, wo das Gewässer bereits über die Ufer tritt, und wir uns zur ersten Passüberquerung aufmachen. An einer Engstelle kommen uns zwei Busse entgegen. Wir müssen zurücksetzen, um Platz zu machen, deuten das aber als gutes Zeichen, dass die Straße noch offen ist. Obwohl uns klar ist, dass sich das in Minuten, ja Sekunden, ändern kann.

15 Minuten später: Wir haben den ersten Höhenzug, den 3680 m hohen Abra Barro Negro überquert, als uns plötzlich ein frischer Erdrutsch den Weg versperrt. Hier ist noch keiner durchgekommen, das kann maximal Minuten her sein. Was tun? Umkehren und hunderte, viele hunderte Kilometer Umweg fahren? Sicher nicht. Warten, bis ein Bagger kommt und die Straße frei schiebt? Das könnte dauern. Aller Wahrscheinlichkeit nach rücken schlicht ein paar Männer an und schaufeln den Weg frei. Also packt Jörg den Spaten aus und macht sich selbst an die Arbeit (Es fragten uns schon einige Leute, wozu wir einen Spaten mithaben). In über 3000 m Höhe kein Pappenstiel. Nun ist das mit einem frischen Erdrutsch nicht so einfach. Obwohl der Untergrund weich-schlammig ist, enthält er viele Steine und lässt sich nur schwer bewegen. Für zwei weg geschaufelte Ladungen rutscht mindestens eine nach.

Zwei Passanten, eingewickelt in blaue Plastikplanen, die hier als Regenponchos dienen, kommen von hinten: Männer, die von irgendwoher kommen, auf dem Weg nach irgendwohin. „Wollt Ihr da rüber?“ Wir zucken mit den Achseln: „Ja, vielleicht…“ Wir sind uns selbst noch nicht schlüssig. Sofort bieten die Männer ihre Hilfe an und das Schaufeln zu übernehmen. Geschickt befestigen sie den hangseitigen Fahrbahnrand mit großen Steinbrocken. Irgendwann wirkt die Schlammlawine auf der Straße nicht mehr so schrecklich schief, nur noch wie ein Riesenhügel Schlamm und Steine.

Zwei Probleme gibt es dennoch: So ein frischer Erdrutsch ist äußerst fragil, beweglich und flüssig. Er hat sich noch nicht gesetzt und gibt selbst beim darüber Laufen nach. Wird er Arminius tragen oder rutscht er weiter zur Seite? Womit wir beim nächsten Problem wären: Rechts der nur einspurigen Straße lauert ein 500 m tiefer Abgrund. Jörg setzt sich mutig ins Auto und fährt los. Langsam zuerst, aber dann beginnt er erwartungsgemäß auf der Abhangseite mehr einzusinken. Er gibt Gas und die zwei Männer und ich sprinten davon, uns in Sicherheit zu bringen, dann ist auch schon alles vorbei. Arminius steht wieder auf festem Grund. Nur das Herz klopft noch eine Weile weiter. Wie zum Hohn lugt die Sonne durch die Wolkendecke.

Was machen wir mit unseren beiden Helfern? Sie wollen in den nächsten Weiler, etwa fünf Kilometer weiter. Wir haben nur zwei Sitze, wollen uns aber revanchieren. Die beiden Männer sind schmutzig, wie – ehrlich gesagt – die meisten Dorfbewohner hier, und das letzte Bad liegt auch schon eine Weile zurück. Ich quetsche die beiden auf den Beifahrersitz und klettere selbst hinten in die Kabine. Während der Fahrt kommen die Dörfler aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie finden nicht nur alle Talismane in unserer Fahrerkabine, das Engelchen und den Hl. Christophorus. Heiligenfiguren spielen eine große Rolle im katholischen Lateinamerika. Am faszinierendsten ist das Navigationssystem, das offensichtlich diese Hinterweltstraße kennt, auf der sich ein kleines blaues Auto bewegt und sogar den Weg markiert, den es bereits gefahren ist. „Ach, diese Deutschen“ meinen sie kopfschüttelnd, das Gesehene nicht begreifend, als sie aussteigen.

Zum Sonnenuntergang finden wir im Nest Achupas einen planen Sportplatz. Ein Nachtlager verweigert einem hier niemand. Wo soll man auch sonst hin? (S 06°47’13.0’’ W 77°55’08.3’’)

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