San Luis, Peru – Traumroute der Cordillera Blanca

Die Straße ist auf meiner Karte nicht einmal eingezeichnet. Und doch entwickelt sie sich zum Besten, was wir auf dieser Reise bislang gesehen haben. Früh losfahren, lautet der Ratschlag, den wir mehrfach erhalten haben, damit man den Pass mittags überquert. Dann ist der Schnee der letzten Nacht schon weggetaut, der nachmittägliche Regen, der in höheren Lagen als Schnee fällt, hat noch nicht eingesetzt, und die Nebelwolken sind auch noch nicht eingefallen. Dieser Rat gilt für alle hohen Pässe, insbesondere in der Regenzeit, und wir halten uns daran. Unser Plan ist, ein paar Kilometer zurück nach Norden zu fahren, die Cordillera Blanca auf der Straße von Carhuaz nach Chacas zu überqueren, an der Ostseite des Gebirges nach Süden weiterzureisen und die Ruinenstätte Chavín de Huántar von hinten „anzugreifen“ – eine von Touristen äußerst selten benutzte Route.

Allerdings bleiben wir gleich hinter Carhuaz erst mal stecken. Die Straße ist wegen Bauarbeiten gesperrt und wird um 9:30 wieder geöffnet – eine Stunde Warten. Weiter oben soll es eine weitere Sperrung geben, die erst um 12 Uhr aufgelöst wird, wie ein Bauarbeiter und ein Schild verkünden. Da alle warten – Busse, Lkw und Taxen – warten wir auch. Von einer auf Ausflug befindlichen Adventistengemeinde (evangelikaler Glaube direkt importiert aus den USA) – das biedere dunkelblaue Kostüm mit dem Rock in Ladylänge, das sorgfältig gekämmte Haar mit dem biederen Pony, das frömmelnde Gehabe mit devoter Kopfneigung und ständig gefalteten Händen und die irgendwie ätherische Stimme bestätigen dies – bekomme ich ein Büchlein mit den gedruckten Worten Gottes geschenkt. Ich füge es meiner Sammlung hinzu: zwei kleinen neuen Testamenten aus Yellowstone (von der gleichen Clique?), eine Mormonenschrift, zwei Heftchen über Yoga und Reinkarnation der Bhagwan-Sekte aus Kalifornien und einem Blättchen der Zeugen Jehovas aus Mexiko. Um 9:25 Uhr steigen alle in ihre Autos ein, um 9:28 Uhr starten sie optimistisch ihre Motoren und nach meiner Uhr um Punkt 9:30 öffnet die Baustelle zur Durchfahrt – schier unfassbar, wir sind schließlich in Südamerika.

Von Peruanern hatten wir im Vorfeld gehört, dass sie sich selbst als „Schweiz Südamerikas“ bezeichnen. „Bei uns ist alles ordentlich und geregelt“, so das Selbstverständnis. Vielleicht ist da sogar etwas dran. Etwas. Laut Weltbank ist Peru ein Schwellenland, kein Entwicklungsland mehr. Auch das hat sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt. „Wir sind wie Mexiko“, behauptete kürzlich einer unserer Gesprächspartner. Nun, jedes noch so winzige Dorf hat Strom, und fast alle ebenso fließend Wasser. Wichtige Themen sind Kampf gegen Analphabetismus, Gesundheitsversorgung und Arbeitsschutz. Trotzdem: Es gibt jede Menge Ungleichverteilung, Ungerechtigkeit, Armut, und vielleicht sogar Hunger. Immer noch lebt die Hälfte des Volkes unterhalb bzw. am Rand der Armutsgrenze.

Und noch etwas ist verbesserungsfähig: die Führerscheinregeln. Obwohl ein Fahrer uns heute doch Respekt abnötigt. Es ist natürlich ein Busfahrer, einer dieser furchtlosen Desperados, der sich mit seinem Gefährt über die schlechten Straßen kämpft, der im Schlamm schlitternd mutig bergauf fährt und trotz der Reihe entgegenkommender Fahrzeuge nicht den Fuß vom Gast nimmt. Der flotteste – um nicht zu sagen riskanteste – Fahrer in der Kolonne ist aber der Taxifahrer aus der Adventistengemeinde. Aber der fährt ja auch mit Gott, wie der Schriftzug auf seiner hinteren Scheibe verkündet. Da kann nix schiefgehen.

Die landschaftliche Schönheit dieser Route ist vergleichbar mit der bei den Lagunas Llanganuco, nur dass hier die Straße breiter ist. Wir fahren in ein grünes Hochtal mit blauem Fluss zwischen hohen Felswänden. Die Schneegrenze liegt bei rund 4.600 m, nun sind wir auf Höhe der umgebenden Gletscher. Noch ein bisschen weiter oben liegt Schnee auf der Straße, lediglich die Reifenspuren haben sich frei gefahren, dann fahren wir zwischen zwei senkrechten Schneewänden durch. Der Olympic Pass liegt auf 4.900 m, dahinter haben die Gletscher grüne und türkisfarbene Seen mit ihrem Schmelzwasser gefüllt.

Die Regierung ist bemüht, diese wichtige Passüberquerung auszubauen und zu asphaltieren. So erklären sich die unzähligen Baustellen, an denen wir immer wieder warten müssen, obwohl eine weitere vormittägliche Sperrung ausbleibt. Die Straße ist stellenweise schon asphaltiert oder zumindest zweispurig verbreitert und geschottert. Der Pass, wo sich die Piste zwischen den Felsen zweier Berge durchdrängt, ist noch nicht gemacht. Die Fahrbahn ist hier eng mit ein paar Ausweichstellen und in halbkatastrophalem Zustand. Tauwasser von den umliegenden Gletschern, das über die Straße läuft, hat Erde und Schotter weggespült und die großen Grundsteine freigelegt, über die man nun rumpeln muss. Sobald man die Passhöhe überwunden hat, wird die Straße jedoch wieder breiter und besser.

Der kleine Ort Chacas auf der anderen Seite hat alte Häuser mit kunstvoll geschnitzten Holzbalkonen aufzuweisen. Im weiteren Verlauf wird die Straße extrem schlammig und rutschig. Da sämtliche Bergstraßen in Peru mit nur mäßigen Steigungen dem Bus- und Schwerverkehr bzw. dem Leistungsverlust von Verbrennungsmotoren in der Höhe angepasst sind, kommen wir trotzdem voran. Die Spitzkehren sind nichtsdestotrotz sehr eng. Während wir uns noch ernsthaft überlegen, ob die maroden Holzbrücken uns tragen, donnert ein 40-Tonner Baulaster, voll beladen mit großen Steinen, ungeniert über eine davon. Uh – Gänsehaut.

Einige Kilometer hinter San Luis finden wir ein Kirchlein mit großem Platz davor (S 09°06’43.1’’ W 77°18’45.9’’, 3.370 m) und einem einzelnen Haus daneben. Kampiert man irgendwo in der Nähe einer Ansiedlung, ist es nicht nur ein Gebot der Höflichkeit, jemanden über sein Ansinnen zu informieren, es ist auch eine Sicherheitsfrage. Lernt man seine Nachbarn kennen, haben sie durchaus ein Auge auf die Fremden. In dem Haus finde ich zwei Hunde und eine alte Frau. Nur mit der Verständigung klapp es nicht so wie gewohnt. Es dauert ein wenig bis ich es registriere: Die Frau spricht kein Spanisch, jedenfalls deutlich weniger als ich. Sie spricht Quechua.

Etwa 31 % von Perus 29,5 Mio. Einwohnern sind Indigene. Einen derart hohen Anteil an der Bevölkerung haben in Lateinamerika lediglich Bolivien und Guatemala aufzuweisen. (Die anderen wichtigen Bevölkerungsgruppen Mestizen, also Mischlinge, und Kreolen, Spanischstämmige.) Die Sprache der Inka war Quechua. Da diese bei ihren ausgedehnten Feldzügen den eroberten Völkern ihre Kultur, ihre Götter und ihre Sprache aufdrängten, sprechen auch heute noch mindestens 13 Mio. Menschen Quechua als Muttersprache und in den meisten Fällen Spanisch als Zweitsprache. Einige Völker am Titicacasee und im Amazonastiefland haben sich ihre eigenen Sprachen bewahrt.

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