Huayraccasa + Ocucaje (Ica), Peru – Der höchste Pass der Welt?

Von 5.000 auf 0. In ein paar wenigen Stunden. Umgekehrt ist das nicht empfehlenswert. Genauer fahren wir heute von 3.150 m auf den 5.059 m hohen Huayraccasa Pass und sausen dann zurück zur PanAm. Ob der Abra Huayraccasa tatsächlich 5.059 m hoch ist und ob er wirklich der höchste befahrbare Pass der Welt ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Fehlerfreie Höhenbestimmung ist auch im heutigen Zeitalter ein Problem. Höhenmesser müssen an einem bekannten Punkt (z.B. Meeresniveau) kalibriert werden. Während der Auffahrt bzw. des Aufstiegs darf sich dann das Wetter nicht ändern, da analoge und digitale Höhenmesser über den Luftdruck gesteuert werden. Auch modernste GPS-Geräte liefern nicht unbedingt exakte Messungen. Abhängig von der Anzahl der empfangenen Satelliten kann die Höhenangabe um Dutzende Meter abweichen, selbst wenn eine genaue Koordinatenbestimmung auch mit wenigen Satelliten möglich ist. Um die 5.000 m ist der Pass jedenfalls hoch, und für den Fall, dass er tatsächlich der höchste ist, überfahren wir ihn vorsichtshalber.

Wir folgen der schmalen an den Berg geklebten Straße bis Santa Inés, deren Asphaltierung einzig das Gefühl erzeugt, etwas zivilisierter in die Tiefe stürzen zu können. Bei den hübschen Bergseen Lago Orcochocha und Laguna Choclococha biegen wir Richtung Huancavélica ab (ärmste Stadt Perus, ab hier guter breiter Schotter), bevor uns ein Schild den Weg nach Huachocolpa weist. Ab hier wird’s wieder eng, nass und schlammig, aber ein vorausfahrender Sattelschlepper und ein weiterer entgegenkommender in einigen Hundert Meter Entfernung stimmen uns positiv. Die beiden Sattelzüge bewegen sich kontinuierlich aufeinander zu, Ausweichstellen ignorierend, bis sie voreinander stehen – sinnlos, hirnlos. Der eine Trucker rangiert seinen Sattelzug nun verzweifelt in den schlammigen Graben, rutscht dabei fast ab, und kommt wie durch ein Wunder anschließend wieder heraus.

Die Besatzung des entgegenkommenden Lasters gestikuliert, wir sollen umkehren. Nach ein paar Kilometern erreichen wir die Passhöhe, wo eine Minengesellschaft freundlicherweise ein Schild aufgestellt hat (S 13°04’34.7’’ W 75°01’38.0’’). Wir haben unsere Fotos noch nicht alle geschossen, als der vor uns gefahrene Sattelschlepper in umgekehrter Richtung zurückkommt und uns zuruft, die Straße ist gesperrt. Wir wollten sowieso nur auf die Passhöhe. Wir treten den Rückweg an, nehmen aber ab Santa Inés die östlichere Route über Pilpichaca (Asphalt, breit) zurück bis zur Hauptstraße Pisco-Ayacucho. Den 250-km-Abstecher nach Ayacucho sparen wir uns. Nicht wegen Sicherheitsbedenken, die Stadt gilt trotz wieder aufgeflammter Aktivitäten von Sendero Luminoso (siehe Exkurs) für Touristen als sicher. 36 Kolonialkirchen und diverse Privatpaläste schaffen es nach einem intensivst kolonialen Mexiko nicht, die Spritkosten aufzuwiegen.

Wir fahren zurück zur Panamericana bei Pisco. Diese Route ist nicht ganz so spektakulär wie der Hinweg, doch kurzweilig. Wie überall in den Bergen teilt man die Straße mit den teils bunt gemischten Viehherden aus Kühen, Pferden, Eseln, Ziegen, Schafen und Schweinen. Manche gehen ganz alleine spazieren, bei anderen hält sich der Treiber auf der anderen Fahrbahnseite in sicherer Entfernung von der Herde auf und wartet, bis der Autofahrer die Situation irgendwie gelöst hat.

Manchmal fragt man sich: Was ist Zivilisation? Man kommt in ein Dorf mit einfachsten Lehmziegelhütten, die Asphaltstraße geht vorübergehend in schlaggelöcherten Dreck über, ungekämmte Kinder popeln in der Nase, Wäsche liegt zum Trocknen über Zäunen, auf Büschen oder einfach im Schmutz auf dem Boden, und Strommasten und Straßenlaternen künden von Fortschritt. Und dann kommt man um die Ecke und sieht sich mit einer Plaza konfrontiert, die wie ein fremd-implantiertes Organ erscheint: in akkuraten geometrischen Formen betoniert, gepflastert, mit Blumenbeeten und Sitzbänken versehen und von völlig überirdischen Kugellaternen beleuchtet.

Können wir diesem Fortschrittsgedanken im Sinne des Gemeinwesens noch etwas abgewinnen, möchten wir der Regierung an anderer Stelle dringendst zu Einsparungen im Staatshaushalt verhelfen: bei den Verkehrszeichen. Ihre schiere Anzahl nähert sich deutschem Niveau, nur dass auf diesen Dreckpisten nur alle paar Stunden mal einer vorbeikommt. Manche Schilder grenzen an Eulenspiegeleien. Auf einer kurvigen Bergroute, wo wir mit Mühe und Not 40 km/h erreichen (im Pkw geringfügig mehr), steht: Mindestgeschwindigkeit 55 km/h, Höchstgeschwindigkeit 80 km/h. Selbst Geschwindigkeitsbeschränkungen auf 35 km/h wirken putzig, wenn man in engsten Serpentinen nicht schneller als 20 km/h fahren kann. Oder man zittert auf einer einspurigen Erdpiste, ob die hangseitigen Räder noch auf der Straße bleiben, da höhnt ein Schild: nicht überholen. Entweder die Peruaner haben zu viel Geld in ihrem Verkehrshaushalt oder sie besitzen eine Art zynischen Humor, den ich noch nicht ganz verstanden habe.

In Höhen zwischen 5.000 und 4.000 m grasen Kleinkamele. Wilde Vikunjas sausen flink umher, aber auch die domestizierten langbeinigen Lamas und die stummelfüßigen Wolle liefernden Alpakas können erstaunlich schnell laufen, wenn sie die wulstigen Lippen schürzen und ihren Kopf an dem seltsam langen Hals weit nach vorne strecken. Sie tragen bunte Schleifchen an den Ohren zur Kennzeichnung, in wessen Besitz sie gehören. In den gleichen Höhen rennen auf steinigen Gründen Bergviscachas Schutz suchend in ihre Bauten. Die munteren Säugetiere, die auch Hasenmäuse genannt werden, gehören zur Familie der Chinchillas, werden bis zu 40 cm groß mit 20 cm buschigem eingerolltem Schwanz und sind äußerst niedlich. Sie sehen aus wir Murmeltiere mit Hasengesicht und überlangem Schwanz. Ihr weiches Fell ist sehr begehrt.

Zurück auf der PanAm an der Pazifikküste passieren wir die wenig einladende Stadt Ica, die einen Tottus und einen Plaza Vea (S 14°04’18.5’’ W 75°44’16.3’’) Supermarkt hat. Fast schon Vorstadt geworden ist die Oase Huacachina. Umgeben von hohen Sanddünen tritt hier ein unterirdischer Fluss aus den Anden ans Tageslicht und speist einen See, der eine grüne Palmenoase wie in der Sahara nährt. Doch der Kulturschock lässt nicht auf sich warten. Menschenmassen pilgern auf die Sanddünen, 20sitzige Dünenbuggys rasen mit einheimischen wie ausländischen Touristen beladen die Hänge hoch und runter, laute Musik dröhnt von überallher, und auf dem Parkplatz drängen sich panikartig die Autos. Kaum dass wir eine Stelle zum Wenden finden, treten wir die Flucht an.

Die Sonne geht schon unter, wir hoffen, den dringendst benötigten Schlafplatz im Weinort Ocucaje 30 panamerikanische Kilometer südlich zu finden. Truck-Stop-Camping an der PanAm ist nur etwas für Taube. Ocucaje macht einen seltsam heruntergekommenen Eindruck auf uns. Ein Polizist bietet an, vor der Polizeistation zu nächtigen. Wir entscheiden uns, hinter dem Gebäude zu parken, wo es ebener ist (S 14°20’46.3’’ W 75°40’16.9’’), und ich gebe einem anderen Beamten Bescheid. Trotzdem klopft es 15 Minuten später an die Türe, der Capitano persönlich. Er bittet uns, in sein Büro zu kommen, Pässe und Fahrzeugpapiere mitzubringen. Es gibt kein Problem versichert er, wir können campen, und kontrolliert die Ausweise nur oberflächlich. Notiert oder kopiert wird nichts, ich mutiere zu Ingrid Deutsch und auch Jörg erfährt einen Namenswechsel. Sollten wir dem peruanischen Präsidenten etwas antun wollen, sucht man sowieso nach den falschen Menschen. Der Präsident soll nämlich morgen um 9 Uhr nach Ocucaje kommen, um Spenden zu verteilen. Der Ort wurde von mehreren Erdbeben heimgesucht, das letzte vor sechs Tagen. Das erklärt den desolaten Zustand des Dorfes.

Leave a Reply

You must be logged in to post a comment.