Archive for Juni, 2010

Field, Yoho NP, British Columbia und Lake Louise, Banff NP, Alberta – Gletscherrückzug und Auspuffqualm

Mittwoch, Juni 30th, 2010

Das Wetter ist wenig einladend heute Morgen: 6° mit Regen-, Schnee- und Graupelschauern. Wir fahren trotzdem an den Emerald Lake im Yoho Nationalpark, der so aussieht wie er heißt: Smaragd. Ein Reisebus voller Japaner vertreibt uns schnatternd und knipsend an einen Aussichtspunkt ein paar Kilometer die Straße hinunter, wo es ruhiger ist und wo der Emerald River, der nichtsdestotrotz grau ist, einige Felsbrocken unterspült hat. Der Bergfluss zwängt sich durch eine Spalte und spritzt auf der anderen Seite als Wasserfall heraus. Natural Bridge, natürliche Brücke, heißt dieser Spot. Das Flüsschen quirlt sich durch die Wälder, aber immer wieder finden sich Ausbuchtungen, wo das Wasser langsamer fließt und der abgelagerte Schlamm niedliche Strände bildet.

Zurück in Lake Louise, Banff NP, kommt uns ein Schneepflug entgegen. Das gibt uns zu denken. Wir beginnen unsere Wanderung zur Plane of Six Glaciers trotz Schnee, denn der Wetterbericht verspricht Besserung für den Nachmittag. Und er soll Recht behalten: Im strahlenden Sonnenschein laufen wir am kitschfarbenen Lake Louise entlang, an dem ein weiteres der berühmten kanadischen Eisenbahnhotels steht. Leider hat man sich seinerzeit architektonisch mit dem The Fairmont Chateau Lake Louise Hotel kaum mehr Mühe gegeben. Es wirkt langweilig, geradezu gefängnisartig hässlich. Der gut 5 km lange Aufstieg durch den Wald zum Six Glaciers Tea House ist dafür umso schöner und so warm, dass man anfängt sich auszuziehen. Die meisten Wanderer kehren zu Kaffee und Kuchen ein, die Ambitionierten aber beginnen sich wieder anzuziehen um dem jetzt frischen Wind zu trotzen und nehmen weitere knapp eineinhalb Kilometer bergauf in Kauf, um zum Aussichtspunkt zu gelangen. Auch auf dem Pfad schadet ein wenig Schwindelfreiheit nicht, aber Jörg schlägt sich absolut tapfer und ignoriert den Abhang (auf beiden Seiten!). Dafür lohnt sich die Anstrengung. Der Blick auf die umgebenden Gletscher ist grandios, weit besser noch als am Teehaus. Mittlerweile haben wir alles angezogen was wir haben. Der über die Eisflächen hinweg gleitende Wind nimmt die Kälte auf und gibt sie and Ohren, Nasen und Hände wieder ab. Ob es wirklich sechs Gletscher sind, vermag ich nicht zu sagen, denn allzu viel ist davon nicht übrig geblieben. Nicht nur wegen sommerlichen Abschmelzens. Der Rückzug der Gletscher nur in den letzten Jahrzehnten ist bezeichnend. Vergleichsfotos von vor 100 Jahren und heute machen erschreckend klar, wie viel weniger gefrorenes Süßwasser noch vorhanden ist. Was die Gletscher zurück gelassen haben ist nicht weniger eindrucksvoll. Geröllhänge riesigen Ausmaßes mit feinst zermahltem Schotter, große Felsbrocken finden sich meist am Fuß des Berges am Ende der ehemaligen Gletscherzunge.

Zurück am Parkplatz will Arminius nicht ganz wie er soll. Er fährt, aber er raucht. Wir sollten ihm das abgewöhnen, Rauchen gefährdet bekanntermaßen die Gesundheit. Da wir die Campingplätze im Nationalpark nicht einräuchern wollen, beschließen wir, den Park zu verlassen. Und zwar in südlicher Richtung, wieder zurück in Richtung Calgary, wo wir erst einmal übernachten.

Lake Louise, Banff NP, Alberta und Field, Yoho NP, British Columbia – Blaugrüner Postkartenkitsch und Spiralbahntunnel

Dienstag, Juni 29th, 2010

Auf dem Parkareal am Lake Louise Infocenter treffen wir endlich auch mal deutsche Weltreisende. Claudia und Uwe aus Franken touren mit ihrem Mercedes Wohnmobil durch Amerika und wollen anschließend nach Australien. Wir hoffen, sie irgendwann auf unserer Tour wieder zu sehen. Unsere erste Halbtageswanderung auf 2000 m Höhe geht zunächst an den Moraine Lake der so was von künstlich quietschtürkis aussieht als hätte jemand einen Farbpott hineingekippt. Die Fichten außen herum und die zehn schneebedeckten 3000er Gipfel darüber machen das Postkartenkitschfoto perfekt. Der Weg geht weiter bis zu den Consolation Lakes. Er ist berühmt-berüchtigt dafür, dass Grizzlybärenmamas ihre Grizzlybärenbabys hier groß ziehen. Erschreckend viele Erdbeerpflanzen bewachsen die Wiesen. Und nicht etwa die winzig-kleinen Walderdbeeren; große Sträucher mit Blüten wie Zuchterdbeeren lassen auf entsprechend große Früchte schließen. Ganz besonders viele befinden sich am Wegrand. Da Bären Beeren mögen, bin ich froh, dass es noch ein wenig dauert, bis sie reif sind. Hier wimmelt es nur so von diversen Erdhörnchenarten wie den kleinen Chipmunks, die bereits für sich die Entdeckung gemacht haben, dass Touristenrucksäcke interessante teils essbare Dinge bergen können. Ein paar possierliche eisgraue Murmeltiere lassen uns zum fotografieren bis auf Sicherheitsabstand ran. Die kurzbeinigen Hörnchen werden bis zu 11 kg schwer, haben an Schultern und Rücken graues, am Schwanz rötliches Fell und einen weißen Fleck um die Schnauze. In Gebieten, die regelmäßig von Menschen aufgesucht werden, sind sie kaum scheu, sondern gehen unbeirrt ihren Tätigkeiten nach.

Wir beschließen, noch einem weiteren Nationalpark in dieser Parkkette einen Besuch abzustatten. Wenige Kilometer nach Lake Louise heißen uns Schilder im Yoho Nationalpark und in British Columbia willkommen. Yoho bedeutet in der Sprache der Cree „Ehrfurcht und Staunen“. Mit British Columbia hätten wir schon mal alle zehn Provinzen Kanadas betreten. Wie überall fällt auch auf dem Trans Canada Highway auf, dass der Lkw Verkehr sich sehr in Grenzen hält. Zum einen liegt das sicher daran, dass im zweitgrößten Land der Erde nur 33 Millionen Menschen leben. Was soll man da unnötig herumfahren? Zum anderen wird unglaublich viel per Schiene transportiert. Ständig fahren hupende Güterzüge, die das Wild verscheuchen wollen. Auf jedem Waggon stehen zwei kleine und ein großer Überseecontainer darüber, wenn es sich nicht um Schüttgut- oder Tankwaggons handelt. In Yoho führt gleich neben dem TCH die Bahnlinie durch die Spiral Tunnels. Im sehr engen Tal stellte sich die ursprüngliche Trassenführung als zu steil heraus, viele Waggons entgleisten. Bereits 1909 wurden am Kicking Horse Pass daher zwei spiralförmige Tunnel in den Berg gesprengt, um die Steigung von 4,5 auf 2,2 % zu reduzieren. Da kanadische Güterzüge meist extrem lang sind und weit über 100 Waggons ziehen, sieht man die Loks, in der Regel drei bis vier, bereits aus dem Tunnel ausfahren, während die letzten Waggons noch nicht einmal hinein gefahren sind.

Vor der Ortschaft Field im Yoho Park drehen wir wie die Profis eine Runde über den Monarch Campground, suchen uns einen Stellplatz aus, registrieren uns und reservieren ihn, bevor wir weiterfahren zu den Takakkaw Falls. Die 254 m hohen Wasserfälle gehören zu den höchsten Kanadas. Besonders interessant ist, dass die Fälle ausschließlich von dem wenig oberhalb liegenden Daly Gletscher gespeist werden. Entsprechend ändert sich Takakkaw, was in der Cree-Sprache „wunderbar“ bedeutet, im Laufe des Jahres. Mit einsetzender Schneeschmelze im Frühsommer rast die größte Wassermenge den Abhang hinunter. Im Spätherbst werden die Fälle spärlicher. Das Restwasser friert schließlich im Winter ein, bis der Gletscher für das nächste Jahr neue Schneemassen sammelt. Die Takakkaw fälle münden in den Yoho River. Die Mengen von Gletscherschlamm, die er mit sich führt, verleihen ihm eine eigentümliche milchig-undurchsichtige hellgraue Farbe wie flüssiger Beton. Erst später, wenn sich das Steinmehl abgelagert hat, werden die gelösten Mineralien vielleicht einen See blaugrün einfärben. Die Parkverwaltung hat zwei geschickte Wege anlegen lassen: ein Aussichtspunkt mit Überblick über den gesamten Wasserfall und einen Pfad an den Fuß der Fälle, wo man sich herrlich nass spritzen lassen kann.

Banff, Banff NP, Alberta – Unser erster Grizzlybär live und in Farbe

Montag, Juni 28th, 2010

Heute Morgen erschreckt uns Mark aus Hamburg. Er kommt hinter einer Ecke vorgesprungen und dröhnt „endlich mal ein anständiges Auto“. Wir hatten uns in der Nacht auf einen kleinen Parkplatz unterhalb eines Schotterwerks gestellt. Mark arbeitet dort seit ein paar Jahren als Lkw-Fahrer, hat uns gesehen und kam den Hang hinunter geklettert. Natürlich kommt er später mit Laster und Kamera nochmals wieder. Ein Foto muss sein.

Wir wagen uns wieder nach Banff hinein, die touristische Lage ist halbwegs entspannt. Als erstes fahren wir an einen Ausblick, wo wir die Stromschnellen des Bow Flusses, die sogenannten Bow River Lower Falls, und das The Fairmont Banff Springs Hotel überblicken können. Das schlossartige Gebäude gehört zu einer Reihe ehemaliger Eisenbahnhotels für Luxusreisende des späten 19. und bis ins 20. Jahrhundert hinein. Teuren Luxus gibt es heute immer noch, wenn auch nicht mehr per Bahn. Ein paar Kilometer weiter liegen ein paar Hoodoos, diese aufgewaschenen Felssäulchen, die uns allerdings weniger beeindrucken als der Blick ins romantische Bow Valley. Schließlich fahren wir zum Sundance Canyon, wo die Ureinwohner früher ihre heilige Sonnentanz-Zeremonie abgehalten haben. Die Halbtageswanderung über 11 km führt uns anfangs asphaltiert am türkisen Bow River entlang, geht aber später hübsch durch den engen Canyon und im Wald entlang.

Ich kannte die Dinger bereits aus Texas, wusste aber nicht, dass sie so heißen: Texas Gates. Das sind in die Straße eingelassene sehr grobe Roste aus dicken Metallrohren mit gutem Abstand dazwischen. Fahrzeuge und Fußgänger können sie problemlos überqueren, Huftiere jedoch nicht. In Texas findet man sie an vielen Ranches, wo man kein Gatter anbringen möchte, das man ständig auf- und zumachen müsste, will man durchfahren. Die Kühe aber bleiben zwangsweise auf der Ranch. In Kanada benutzt man Texas Gates, wie hier im Banff Nationalpark, an den Zufahrten zum Trans Canada Highway. Rehe, Hirsche und Elche sollen so gehindert werden, über die Nebenstraßen auf die Autobahn zu gelangen.

In einer Parkbucht steht ein einsamer Pkw. Die Fahrerin (mit europäischem Aussehen) sitzt, noch einsamer, daneben im Gras. Sie hat eine Indianertrommel in der Hand und schlägt mit dem Schlägel versonnen in die Ferne blickend gleichmäßig darauf ein. Ein ziemlich kurioses Bild. Wir wagen nicht zu fragen, um welche Art Beschwörungszeremonie es sich handelt. An der Straße und während der Wanderungen sieht man immer wieder Rodungen oder abgebrannte Wälder. Meist handelt es sich um gezielte Maßnahmen der Ranger gegen den Borkenkäfer, der sich vor ein paar Jahren aufgrund bestimmter Wetterbedingungen ausgebreitet und große Schäden angerichtet hatte.

Dann ist er plötzlich da, rechts der Fahrbahn auf einem Wiesenhang in einer Waldlichtung: groß, braun, wohlgenährt. Unser erster Grizzlybär in freier Wildbahn. Glücklicherweise nimmt er uns überhaupt nicht wahr, da er mit Essen fangen beschäftig ist. Heute steht Fleisch auf dem Speiseplan. Er scheint ein Erdhörnchen oder ähnliches zu jagen. Das arme Tier muss einen Bau mit mehreren Ausgängen unter der Erde besitzen, da Meister Petz behände zwischen den Löchern hin und her springt. Eigentlich erstaunlich, wie schnell dieser Fleischberg mit dickem Hintern sich bewegen kann. Wähnt er die Beute dicht unter der Erde, wendet er die gleiche Fangtechnik wie die verwandten Eisbären an: Er stellt sich kurz auf die Hinterfüße und lässt sich dann mit seinem ganzen Körpergewicht auf die Vorderbeine krachen um die Erddecke einzuschlagen und den Snack zu fassen. Mit diesem ausgewachsenen Exemplar möchten wir uns nicht ums Abendessen streiten müssen. Wir können nicht sagen, für wen die Geschichte erfolgreich ausgegangen ist. Ein paar Ranger kommen mit dem Auto und bitten uns, weiter zur fahren wenn wir genügend Bilder gemacht haben. Der Bär soll sich nicht an Menschen gewöhnen. Ein vernünftiges Argument in Anbetracht der bepelzten Muskelmassen, das wir gerne respektieren.

Gegen Ende des Tages wandern wir noch einen Kurztrip in den Johnston Canyon. Ein kleiner Bergfluss hat sich tief ins Gestein eingeschnitten, bildet ein paar hübsche Wasserfälle und einen kleinen Tunnel, durch den man hindurch laufen kann. Das Flusswasser ist so frisch und der Canyon so eng, dass die Kälte nicht entweichen kann und selbst im Hochsommer kühle Lufttemperaturen herrschen. Eine Informationstafel bietet einen netten Vergleich: Der Gebirgsbach hat sich in 9000 Jahren 18 m tief gefressen. Als die Pyramiden in Ägypten ganz neu waren, hatte das Flussbett erst die Hälfte seiner heutigen Tiefe erreicht. Scheint irgendwie noch gar nicht so lange her zu sein.

Heute gibt es nach 62 Nächten unserer Weltreise eine weitere Premiere: Wir schlafen zum ersten Mal auf einem Campingplatz. In den großen Nationalparks gibt es keine andere Möglichkeit für Wohnmobile. Den Park zu verlassen und außerhalb nach einer kostenlosen Übernachtungsmöglichkeit zu suchen lohnt sich nicht, da man mehr Geld für Kraftstoff ausgeben würde. Also fahren wir ahnungslos auf den Waldparkplatz, drehen zwei Runden, suchen vergeblich nach einer Rezeption, nach jemandem, der uns sagt wo wir uns hinstellen können und der unsere 21 Dollar 50 für Stellplatz, Klo aber ohne Dusche annimmt. Schließlich fragen wir Doris und Jürgen nach dem System. Es handelt sich hier um Selbstregistrierung. Man füllt ein Formular aus und wirft es zusammen mit dem Geld in einem Umschlag in eine dafür vorgesehene metallene Sparbüchse. Allerdings: Zeche prellen ist absolut verpönt. Der Platz ist relativ fest in deutscher Hand. Ein paar englische Stimmen hören wir und zwei Slowaken, die aber auch deutsch sprechen. Unsere umliegenden Nachbarn können recht viel von unserer Ausrüstung gebrauchen: Feuer vielleicht, mal eben ein Axt, es darf auch schon mal ein Adapter sein- Noch was? Später verbringen wir noch einen lustigen Abend mit den beiden Bochumern, die sich auch nicht über die kanadischen Alkoholpreise einkriegen können.

Dead Man’s Flat, Alberta – Ruhetag II

Sonntag, Juni 27th, 2010

Auch diesen sonnigen Sonntag verbringen wir lieber am lauschigen Bergsee denn auf wochenendüberfüllten Wanderwegen. Wir vertagen die Weiterfahrt auf morgen und melden uns mit neuen Beobachtungen und schlauen Erkenntnissen wieder.

Dead Man’s Flats, Alberta – Ruhetag mit Picknick, Barbecue und Fußball

Samstag, Juni 26th, 2010

Wir sind zurückgekehrt an den wunderbaren Platz am See. Wir haben beschlossen, unseren geschundenen Knochen einen Ruhetag zu gönnen. Der Picknickplatz ist an einem herrlich sonnigen Samstag das Ausflugsziel zahlreicher Familien. Wir veranstalten endlose Führungen um und durch unser Expeditionsmobil. Immer wieder müssen wir den Boden kehren und wischen, um den herein getragenen Restwald zu entfernen. Ein junger Mann muss sich unbedingt in der Fahrerkabine hinter dem Steuer fotografieren lassen. Später wird er zu Hause sicher in buntesten Farben erzählen, wie er das Unikum selbst gefahren hat.

Gegen Nachmittag lädt uns ein Großfamilientreffen nach Fahrzeugbesichtigung zum Picknick ein. Sie beschließen, zu Hause ein Barbecue zu veranstalten und nehmen uns gleich mit. Es gibt Kartoffelsalat, Hotdogs und im Fernsehen Fußballweltcup Korea gegen Uruguay. Wenn das nichts ist!

Banff, Banff NP, Alberta – Lawinenabgang in den Rockies

Freitag, Juni 25th, 2010

Für heute haben wir uns eine Wanderung zum Aylmer Lookout vorgenommen. Die führt zunächst am Lake Minnewanka vorbei, was „See der Geister“ bedeutet. Die Gesamtroute soll 24 km lang sein und einen Höhenunterschied von 560 m beinhalten. Leider ist es nicht getan mit der Verdoppelung dieser Zahl, um die zurückgelegten Höhenmeter zu ermitteln. Die ersten acht Kilometer geht es ständig auf und ab, kein Meter ist eben. Danach geht es nur noch sehr steil bergauf. Der Pfad ist stellenweise nur wenige Zentimeter tief in den Abhang geschlagen, sodass auch eigentlich schwindelfreien Menschen wie mir ein wenig mulmig wird. Als der Bergwanderweg vom See abzweigt, warnt uns ein Schild vor Grizzlybären und plädiert für höchste Aufmerksamkeit. Wir werden heute keinen sehen – zum Wohl oder Wehe, wir können uns nicht entscheiden. Dafür werden wir Zeugen eines Lawinenabgangs. Ein nicht enden wollendes Donnern ertönt im Wald. Glücklicherweise befinden wir uns gerade an der einzigen Stelle mit freier Sicht auf die Berge auf der anderen Seite des Tals. Von ganz oben rutscht ein Schneebrett in die Tiefe, reißt Schmelzwasser und Gestein mit sich und landet krachend hunderte Meter tiefer. Wir verstehen jetzt gut, dass nach wie vor Teile des Banff Nationalparks gesperrt sind. Auf dem Gipfel angelangt wissen wir, dass sich die Strapazen gelohnt haben. Der Ausblick auf den See und die umliegenden Berge ist grandios. Ein eiskalter Wind weht um unsere erfrorenen Nasen. Außer ein paar entzückenden Goldmantel-Zieseln, einem Vertreter der Erdhörnchen, die geschickt Pilze aus dem Boden ausgraben und verspeisen, halten sich unsere Wildsichtungen heute in Grenzen. So lange es wieder bergab geht sind wir halbwegs motiviert. Das ewige Auf und Ab am See entlang wird mit der Zeit lang, länger, zu lang. Leider wartet kein Taxi in der Gegend und wir müssen schon selbst zurücklaufen. Arminius erwartet uns sehnlich.

Banff, Banff NP, Alberta – Ein Wolf auf Schienen

Donnerstag, Juni 24th, 2010

Alle Europaliebhaber kann ich beruhigen: Die Alpen müssen sich nicht hinter den kanadischen Rocky Mountains verstecken. Die Rockies sind hier maximal 3.500 m hoch, bis zur Baumgrenze mit Nadelwald bedeckt, darüber lugen steile graue, teils schneebedeckte Spitzen, vielleicht sogar etwas weniger schroff als so mancher Alpengipfel. Nichtsdestoweniger birgt die Landschaft Schönheit, Faszination, Anmut. Sie gehört zum Besten, was Kanada zu bieten hat. Alpen hin, Alpen her, es ist traumhaft hier. Dazu gehört auch die Tierwelt, die sich von Europa durchaus unterscheidet.

Als erstes fahren wir ins Banff Informationszentrum. Das Dorf selbst erinnert an jeden anderen Berg-Touristenort: sauber, hübsch hergerichtet, proper ausstaffiert, aber eben gnadenlos touristisch und teuer. Selbst das Infocenter ist kommerziell ausgerichtet. Das im Eintrittspreis enthaltene Informationsmaterial ist äußerst spärlich im Gegensatz zu anderen Parks. Möchte man mehr wissen, muss man gezielt nachfragen oder recherchieren, besser noch – so das Ziel – einen der angebotenen Wanderführer kaufen. Noch ist Juni, noch ist Vorsaison, noch sind nicht zu viele Besucher hier. Also quetschen wir so viele Informationen wie möglich aus der Rangerin heraus. Zurück auf dem Parkplatz erwischen wir einen Mounty beim fotografieren von Arminius. Wir plauschen eine Weile mit ihm (und den anderen Neugierigen), dann fahren wir zum Johnson Lake, den wir in einer Kurzwanderung umrunden werden. Die wunderschöne türkis- und smaragdfarbene Tönung erhalten die Bergseen vom Gletscherschlamm, der sich vor Jahrtausenden abgelagert hat. In tieferen Lagen um den See herum findet man Mischwald, darüber Nadelwald bis zur klar erkennbaren Baumgrenze an den umgebenden Bergen. Selbst an den Südhängen sind die Gipfel schneebedeckt. Das Panorama rührt wirklich jeden. Selbst die Abhaktouristen. Die kommen mit ihren Pkw oder Wohnmobilen auf den Parkplatz gedüst. Der Fahrer platziert sich mit laufendem Motor so, dass der Beifahrer aus dem Seitenfenster ohne auszusteigen den See fotografieren kann, und schon brausen sie davon. Johnson Lake gesehen, abgehakt.

Wir fahren auf der Minnewanka Road weiter in Richtung Two Jack Lake und Lake Minnewanka. Im Gebiet zwischen den beiden Seen sollen sich die Dickhornschafe aufhalten. Wir werden nicht enttäuscht: Direkt am Straßenrand grasen kapitale Böcke, die ihr Winterfell schon fast vollständig abgelegt haben, und Mütter mit Lämmern, die sich von den Fahrzeugen in keiner Weise stören lassen. Wir wurden angewiesen, nicht auszusteigen, um die wilden Tiere nicht an Menschen zu gewöhnen.

Im Süden gleich außerhalb des Parks finden wir einen Platz am See, wo wir nächtigen können. Es ist einer dieser Plätze, wo man nicht mehr weg will. Blaugrünes Wasser, hellgrüne Bäume, graue Berge, weißer Schnee. Auf der anderen Seite des Sees läuft die Bahnlinie, wo hin und wieder ein Güterzug fährt. Wir wollen unseren Augen nicht trauen. Ein Vierbeiner trottet in aller Ruhe auf den Schienen entlang. Ein Blick durchs Fernglas eröffnet die ganze Wahrheit: Es ist tatsächlich ein ausgewachsener Wolf mit braunem Fell, der hier einen Kontrollgang durchführt. Die Züge transportieren und verlieren oft Getreide, das wiederum Kleintiere und Wild anlockt, sozusagen ein gefundenes Fressen für den Wolf. Nur Minuten später schwimmt ein Biber über den ganzen See auf uns zu, bevor er im Dickicht verschwindet. Wir sind im Paradies.

Calgary, Alberta – Maultierhirsche und Pfaue in freier Wildbahn

Mittwoch, Juni 23rd, 2010

Heute fällt uns der Abschied besonders schwer. Lynn und Claude sind uns wunderbare Freunde geworden. Wir machen noch ein paar Besorgungen und suchen uns einen ruhigen Übernachtungsplatz, wo Maultierhirsche und Kälber herumlaufen und ein völlig deplatzierter einsamer Pfau seine jammernden Schreie ausstößt.

Calgary, Alberta – Tödliche Büffelsprünge fürs menschliche Überleben

Dienstag, Juni 22nd, 2010

Claude ist heute unser Reiseführer – der beste Westkanadas! Eine 600 km lange Tour durch Albertas Süden zeigt uns so ziemlich alle Landschaftsformen der Provinz: Riesige Acker- und Weideflächen, auf denen es Rinder und richtige Cowboys mit Pferden gibt. Etliche Huttererkolonien bewirtschaften Ländereine, die schon von weitem einen extrem ordentlichen Eindruck macht. Später fahren wir in das Foothills genannte Vorgebirge der Rocky Mountains, wo man in Tälern zwischen grünen Hügeln herumfährt. Am Ende des Tages werden wir in den Rockies des höchsten Straßenpass Kanadas überqueren.

Zunächst aber besuchen wir Head-Smashed-In Buffalo Jump. Die Prärieindianer, vorrangig die Blackfoot Indianer, entwickelten vor etwa 6.000 Jahren eine spezielle Technik, um die für ihr Überleben notwendigen Bisons zu erlegen. Mehrere Stämme arbeiteten zusammen, um die im Herbst fetten Herden zu jagen. Mit Büffel- und Wolfsfellen getarnte Frauen und Männer trieben die Tiere in einen sich verengenden Trichter, den sie in wochelanger Arbeit präpariert hatten. Dabei nutzten sie den schlechten Gesichts- aber guten Geruchssinn der Bisons. Schließlich versetzten sie die Herde in Panik. Die Tiere begannen zu rennen und viele von ihnen stürzten eine Felsklippe hinunter, die sie zu spät erkannten. Die meisten Büffel starben beim Sturz, die verletzten wurden erschlagen oder erstochen. Die Beute wurde komplett verarbeitet: Die Innereien wurden gegessen, das Fleisch in Streifen geschnitten, getrocknet und anschließend teilweise gemahlen und mit Beerenfrüchten vermischt, was das nahrhafte Pemmikan ergab, ein wertvoller Vorrat für den langen Winter. Eingeschmolzenes Fett und Knochenmark diente ebenfalls als Nahrung und Heilmittel. Aus Knochen stellte man Werkzeuge her, Felle, Häute und Sehnen wurden zur Herstellung Kleidung und Tipis (Zelten) genutzt. In fetten Jahren, wenn mehr Tiere erlegt wurden als verarbeitet werden konnten, nahmen sich die Ureinwohner nur die begehrtesten Teile. Die verbliebenen Leichen türmten sich im Laufe der Jahrtausende auf. Grabungen am Head-Smashed-In Buffalo Jump ergaben, dass die Knochenreste das ursprünglich 22 m hohe Felskliff auf 12 m verkürzt haben. Der unappetitliche Name „zerquetschter Kopf Büffelsprung“ rührt von einer alten Legende, nach der ein junger Mann unter einem Felsvorsprung am Fuß des Kliffs dem Spektakel beiwohnen wollte. Bei der außergewöhnlich erfolgreichen Jagd türmten sich die Tierkörper immer weiter auf und erdrückten ihn schließlich an der Felswand. Es gab etliches solcher Buffalo Jumps, doch mit Ankunft der europäischen Siedler verschwand diese Tradition. Die von den Weißen eingeführten Gewehre und Pferde erleichterten die Jagd und verlagerten sie von der Gemeinschaft auf das Individuum. In den Folgejahren wurden in erster Linie von den Weißen hunderttausende von Bisons getötet und die Art schließlich ausgerottet. Gründe waren der gewollte Nahrungsentzug als Lebensgrundlage für die Indianer, eine Art perverser Schießsport sowie die Nutzung des in den Büffelknochen enthaltenen Phosphors zum Bombenbau im 1. und 2. Weltkrieg. Eine später entdeckte kleine Gruppe überlebender Bisons wurde zur Nachzucht genutzt. Heute leben einige hundert Bisonherden in öffentlicher und privater Hand.

Am frühen Morgen des 29. April 1903 rutschte ohne Vorwarnung ein 1 km breites, 425 m langes und 150 m tiefes Felsstück vom Turtle Mountain in die Tiefe und begrub das Kohlebergbaudorf Frank unter sich. Mindestes 70 Menschen starben in dieser Nacht im Schlaf. Die im Kohleschacht verschüttete Nachtschicht konnte sich später retten. 82 Millionen Tonnen Stein verschütteten nicht nur das Dorf, das ganze Tal füllte sich mit Felsbrocken. Auch heute noch erinnert die fast vegetationslose Steinwüste an Kanadas größtes Erdrutschunglück. Als Ursachen werden eine instabile geologische Bergstruktur, Untertage-Bergbau, Wasseraktivitäten und einige ungewöhnlich warme Tage gefolgt von einer Frostnacht angesehen.

Entlang der Rocky Mountains hat Alberta in Nord-Süd-Richtung einige aufeinanderfolgende Parks errichtet. Von Süden her fahren wir in den Kananaskas Provincial Park, auch K-Country genannt, hinein. Die grün bewachsenen lieblichen Hügel der Foothills verschwinden, die Berge werden steiler, schroffer, steiniger und die Straße steigt stetig an. Man wähnt sich in den Alpen mit all den grauen schneebedeckten Bergen und den Nadelwäldern. Der Highwood Pass auf 2206 m Höhe öffnet immer erst am 15. Juni, wir haben also Glück. Auch jetzt noch liegt Schnee an den Seiten und beim Fototermin im T-Shirt stellt sich eine Gänsehaut ein. Auf der Suche nach Wildtieren kreuzen wir durch den ganzen Park. Wir finden jede Menge Rotwild und Maultierhirsche, die wegen ihrer großen Ohren so genannt werden, aber größere Tiere tauchen heute nicht auf.

Calgary, Alberta – Neue Freunde auf 1000 Metern Höhe

Montag, Juni 21st, 2010

Kaum führt uns die Straße den steilen Hang aus dem Tal hinaus, hat uns die Prärie wieder. Ganz unmerklich sind wir auf mittlerweile 1000 Metern Höhe angekommen. Im herrlichen Sonnenschein schlecken wir ein Eis. Dann fahren wir nach Calgary hinein in einen ruhigen grünen Wohnbezirk, wo wir von Claude, Lynn und ihrer Familie bereits erwartet werden. Claude ist Natalies Onkel, die wir in Prince Edward Island besucht haben. Wir haben neue Freunde gefunden!

Drumheller, Alberta – Auf der Suche nach dem Superlativ von öde

Sonntag, Juni 20th, 2010

Ein Anruf bei der Highway-Hotline heute Morgen mach klar: Die Trans Canada Autobahn nach Alberta ist weiterhin wegen Überflutung gesperrt. Welche Ironie, wo doch dieses Gebiet mit durchschnittlich 270 niederschlagsfreien Tagen pro Jahr das trockenste Areal Kanadas ist. Wir erfahren, dass die Straßenschäden erst behoben werden müssen, bevor der Highway wieder passierbar sein wird. Wer weiß wie lange das dauert. Außerdem wurde eine Brücke auf der Zubringerstraße zum Cypress Hills Park beschädigt, sodass es keinen Zugang gibt. Wir müssen einen Umweg über schlechtere Straßen in Kauf nehmen. Was die Prärie nicht daran hindert, noch öder zu werden. Die nahezu erhebungsfreie Ebene erstreckt sich bis zum Horizont. Es gibt wenige genutzte aber vielfach unbestellte Ackerflächen, meist wächst schlicht Gras. Da wird es wohl nichts mit Jörgs Traum, Mähdrescher auf den riesigen Präriefeldern u fahren. Es gibt nichts zu ernten! Einzige Blickfänge sind kleine Flecken gelber Rapsblüten, seltene Windfangstreifen und ein paar Teiche, die sich wegen der ergiebigen Regenfälle weiter ausgedehnt haben als gewöhnlich. Die wie mit dem Lineal gezogene Straße scheint in die Unendlichkeit zu führen.

Beim Überfahren der Provinzgrenze nach Alberta sind wir völlig verwirrt. Eigentlich fahren wir in eine neue Zeitzone, aber die Zeit ändert sich nicht. Dagegen mussten wir die Uhr eine Stunde verstellen, als wir von Manitoba nach Saskatchewan gefahren sind, obwohl sich dort keine Zeitzone befindet. Das Geheimnis ist, dass Saskatchewan keine Sommerzeit hat. Aber wer bitte soll da durchblicken?

Was ist der Superlativ von öde? Ödnis, am ödesten, oder gar Ödipussy? Ost-Alberta dürfte der Ort in Kanada sein, das herauszufinden. Auf jeden Fall ist es hier „am prärieesten“. Auf der nur marginal hügeligen Ebene fehlt Ackerbau völlig. Wiesen dehnen sich so weit das Auge reicht. Hier gibt es nicht einmal mehr Haine oder Windfänge. Hier gibt es nichts. Außer einer Straße, auf der man das Lenkrad in Geradeausstellung arretieren kann. Und hin und wieder ein paar wie gemeißelt im Gras ruhende Bullen, die, meint zumindest Jörg, daran sterben, dass sie sich tot lachen über das „harte“ Leben das sie führen.

Präriehunde scheinen mental recht einfach strukturierte Lebewesen zu sein. Jedenfalls deuten ihre Verhaltensweisen nicht gerade auf ein Übermaß an Cleverness hin. Mit Vorliebe halten sie sich auf dem Mittelstreifen der Fahrbahn auf. Nähert sich ein Auto, stellen sie sich auf die Hinterbeine und beobachten das heranrasende Gefährt ohne zu zucken. Ich nehme an, dass sie dabei auch ihr schrilles Bellen, dem sie ihren Namen verdanken, ausstoßen, um den imaginären Riesenfeind zu vertreiben. Das glückliche Erdhörnchen überlebt, wenn das Fahrzeug in seinem Fahrstreifen bleibt. Es gibt auch unglückliche.

Unerwartet fahren wir ein steiles Gefälle hinunter. Ein glaziales Flusstal öffnet sich, das uns verzaubert. Der Fluss hat das Sandgestein stufenförmig auszuwaschen. Die horizontalen Flächen sind jeweils mit einem kurzen grünen Grasteppich bewachsen, auf den vertikalen Stufen kann sich keine Vegetation halten und der gelbbraune Stein bleibt sichtbar. Der Fluss mäandert durch die gestreifte Landschaft. Die Badlands genannte Gegend ist berühmt für ihre Dinosaurierknochenfunde, die archäologischen Fundstellen selbst kann man aber nicht besichtigen. Den Besuch der kommerziellen Ausstellungen mit zahlreichen Dinos aus Plastik und Beton tun wir uns nicht an, aber die Hoodoos geben ein nettes Fotomotiv ab. Die ausgewaschenen Sandsteintürmchen besitzen eine etwas größere Steinkappe, die sie vor weiterer Erosion schützt und ihnen das Aussehen einer Art Pilz verleiht. Die Säulen stehen auf dunklerem Gestein, das aus den Ablagerungen eines Meeres vor 74 Millionen Jahren stammt.

Arminius hat vorübergehend Peggys Cove als eines der beliebtesten Fotomotive Kanadas von seinem Platz verdrängt. Auf dem Highway verhalten sich manche Fahrzeugführer seltsam. Erst fahren sie minutenlang dicht hinter uns her, dann setzen sie zum überholen an, bleiben aber daneben. Lugt man zur Seite, schaut man direkt in eine Kameralinse oder ein Handy, je nachdem was gerade zur Hand ist. Anschließend fährt der Wagen dicht vor uns her, damit der Beifahrer auch unsere Front ausführlich knipsen kann. Auf dem Parkplatz vor den Hoodoos produzieren wir einen Menschenauflauf. Wenigstens fragen die Neugierigen, ob sie ein Foto machen dürfen. Besondere Freude bereitet mir eine kanadisch-amerikanische Wundertütenfamilie. Drei blondierte, sonnenbebrillte, junge Ladies skandieren filmreif mit hohen schrillen Stimmen „oh wie aufregend“, „großartig“, „wie wundervoll“, „das ist toll“. Sie verstehen es, dir für fünf Minuten das Gefühl zu geben, der interessanteste Mensch der Welt zu sein. Und das kostenlos.

Wir bleiben auch nach der Stadt Drumheller für einige Kilometer im Tal und suchen uns einen schönen Übernachtungsplatz, wo wir bei einem Bier den Sonnenuntergang bestaunen können.

Regina, Saskatchewan – Erdhörnchen und Kojoten in der Prärie

Samstag, Juni 19th, 2010

Jörg liegt unter dem Auto und kontrolliert die Differentiale. Ein besorgter Passant erkundigt sich, ob Jörg nicht von den im Schatten besonders lästigen Mücken aufgefressen wird. Gleichzeitig beruhigt er uns: Die Moskitos hier sind harmlos. Richtung Alaska würden sie so groß werden, dass sich die Telefonleitungen durchbiegen, auf denen sie sitzen und sie dabei gleichzeitig aus einer Wasserpfütze saufen würden. Schöne Aussichten.

Die Highway-Hotline bestätigt mir heute Morgen, dass der TCH noch nicht wieder befahrbar ist. Gemeinsam mit den Franzosen erarbeiten wir eine Alternativroute, denn wir wollen heute Abend gemeinsam grillen. Mit Beginn der Prärien ändert sich auch die Fauna. Erdhörnchen scheinen keiner gefährdeten Gattung anzugehören, sie sausen über die Straße hin und her, nicht immer mit Erfolg. Hält man an, flitzen die wenig scheuen Nager erst kurz vor Annäherung in ihren Bau. Dort strecken sie keck ihr Köpfchen aus dem Loch und lassen aus ihrer kleinen geöffneten Schnauze mit vielen spitzen Zähnen ein empörtes Pfeifen ertönen. Ihre schwarzen Knopfaugen beobachten dabei unentwegt, ob die Vertreibungsversuche Erfolg zeigen. Die Präriehunde sind allerliebst, wenn sie Männchen machen, aber ich frage mich ob sie nicht eine ähnliche Plage sind wie Mäuse in Europa. Die endlosen Wiesen mit vielen Laubhainen dazwischen sind ideales Terrain für Kojoten. Einer kreuzt unseren Weg, zwei weitere Rudelmitglieder fliegen im hohen Gras.

Die Empfehlung der Reiseinformation führt uns ins Qu’Appelle Valley. Ein nacheiszeitlicher Gletscherfluss hat sich tief ins Umland eingefräst. Die Berge zu beiden Seiten des Qu’Appelle Rivers haben ganz unterschiedliche Gesichter. Die Südseite ist komplett bewaldet, die Nordhänge sind schlicht mit Gras bewachsen. An mehreren Stellen weitet sich das Gewässer zu einem großen See. Die im Tal aufgestellten Vogelhäuser tragen alle Nummern. Ich finde diese Maßnahme äußerst sozial, trägt sie vermutlich wesentlich zur besseren Orientierung der brütenden Vögel bei.

Regina, Saskatchewans Hauptstadt mit 170.000 Einwohnern, ist nicht allzu aufregend, und wir fahren lieber weiter zum vereinbarten Treffpunkt mit Francoise und Dominique. Auf dem Parkplatz im nunmehr flachen lieblichen Qu’Appelle Valley beobachtet uns ein kapitaler Hirsch. Viele der ausgeschilderten Picknickplätze sind mit Grills ausgestattet und wir müssen nur etwas Holz sammeln, um unser gemeinsames Barbecue anzuwerfen.

Brandon, Manitoba – Hexenbesen auf Bäumen und Hutterer im Supermarkt

Freitag, Juni 18th, 2010

Stundenlanger, wolkenbruchartiger Regen ist in Mitteleuropa undenkbar. Es gießt immer noch wie aus Kannen, aber wir wollen uns heute Morgen nicht schon wieder vom Wetter von unserer Wanderung abhalten lassen. Bewaffnet mit Regenjacke und Regencape, wetterfester Hose und Gummistiefeln trapsen wir nach Spirit Sands. Kaum sind wir fertig angezogen, lässt der Regen nach. Immerhin helfen sie Sachen auch gegen den massiven Mückenangriff, der jetzt erfolgt. Anfangs sind die Sanddünen mit dichter Vegetation bedeckt. Doppelt so viel Regen jährlich wie in einer durchschnittlichen Wüste ermöglicht das Wachstum von Birken und Eichen, Fichten und Tannen, Espen und Giftefeu. Weniger angenehm für die Bäume ist eine Hexenbesen genannte schwärzliche Astverdickung, die hervorgerufen wird durch eine parasitäre, zur Gattung der Mistelgewächse gehörende Pflanze. Diese manipuliert den Hormonhaushalt ihres Wirts und zapft dessen Nährstofftransport an, was zu seiner Schwächung und oft zum Tod führt. Versuche, den Parasiten chemisch zu vernichten, waren zwar äußerst erfolgreich. Leider starb dabei der Wirtsbaum jedes Mal mit.

Wacholder gedeiht hier genau so wie Buschwindröschen, wilde Lilien und Orchideen. Nach und nach lichtet sich der Bewuchs, Gräser übernehmen die Hauptrolle. Endlich finden wir auch die Kakteen, die freundlicherweise Mitte Juni blühen. Die Ansammlungen kleiner grüner stachelbewehrter Kugeln mit rosaroten Blüten in der Mitte haben die Fähigkeit, Wasser in ihren dicken Körpern zu speichern. In normalen Sommern soll es 30° warm werden, der ausgetrocknete Sand hat dann bis zu 55°. Irgendwann verschwindet die Vegetation völlig. Geschickt angelegte, zum Teil mit einer Art dicken Leiter gesicherte Pfade führen über die Wanderdünen. Hier oben peitscht uns der Wind die Regentropfen wieder schmerzhaft ins Gesicht. Ein paar hundert Meter weiter hat die Natur ein neuerliches Kuriosum geschaffen. In einer kleinen Senke ist dank Oberflächenwassers ein dicht bewaldeter Hain entstanden. Hier stehen große alte Bäume wie sonst nirgends in Spirit Sands. Es ist so kühl und feucht, dass selbst Moose und Pilze wachsen. Auf den weichsandigen Wegen sind Wildwechsel gut zu erkennen. Tief eingedrückte Hufspuren von Hirschen fehlen ebenso wenig wie große Katzentatzen; ein Puma vielleicht. Kilometerweit führt der Trail durch die eigenartige Sandwüste, die vor 15.000 Jahren von einem großen Gletscherfluss geschaffen worden war, der an der Mündung in einen See das riesige, nun großteils bewachsene Sanddelta hinterlassen hatte.

Am Freitagnachmittag tun wir, was die meisten Kanadier tun: Wir gehen einkaufen. Der Supermarkt in Brandon verkörpert für mich das Multi-Kulti-Kanada, das ich erwartet habe. Statt zu shoppen könnte ich mich stundenlang hinsetzen und Menschen beobachten. Es gibt Schwarze und Weiße, Angehörige verschiedenster Stämme der First Nations und eine unerwartet große Anzahl Hutterer. Die Frauen sehen apart aus in ihren langen, dirndlähnlichen Kleidern und den Kopftüchern. Wie aus einem anderen Jahrhundert. Wenn da nicht das obligatorische Handy am Ohr wäre. Zwei der Männer in ihren schwarzen Hosen und den adretten gestreiften oder karierten Hemden sprechen mich an. Sie kommen von einem Bruderhof eine Stunde südlich von Brandon. Ihr Deutsch ist ausgezeichnet, wenn auch mit einem ungewohnten Akzent. Ursprünglich stammen sie aus Tirol, erfahre ich, und bis ihre Kinder mit fünf Jahren in eine englische Schule gehen sprechen sie tirolisch und deutsch. 110 Hutterer gebe es in ganz Manitoba. Da klingelt auch schon das Handy, die Schwester ruft, und sie müssen los – mit ihrem Auto, natürlich.

Den Mann am Saskatchewan Informationszentrum direkt am Trans Canada Highway beneide ich nicht um seinen Job. Er muss den Besuchern die öden Prärien schmackhaft machen. Allerdings versorgt er uns mit wertvollen Informationen, wo man durch kleine Umwege die Fahrt abwechslungsreicher gestalten kann. Er warnt uns außerdem, dass der Highway Nr. 1 kurz vor der Provinzgrenze nach Alberta momentan wegen Überflutung gesperrt ist. Der Regen hat auch Saskatchewan nicht verschont. Nicht nur wir versorgen uns mit Informationsmaterial, Francoise und Dominique kamen mit dem gleichen Anliegen. Die beiden Franzosen sind ebenfalls auf einer Weltreise. Mit einem Wohnmobil fahren sie durch ganz Amerika und über Buenos Aires und Nordafrika nach Frankreich zurück. Wir beschließen, die Nacht gemeinsam zu verbringen und noch ein paar Erlebnisse auszutauschen.

Spruce Woods, Manitoba – Wolkenbruch über der Prärie

Donnerstag, Juni 17th, 2010

Lake Winnipeg ist bekannt für seine Badestrände und die für kanadische Verhältnisse warmen Wassertemperaturen im Sommer. Der ausgedehnte Sandstrand von Grand Beach Provincial Park ist wirklich hübsch mit seinen bewachsenen Dünen und das Wasser ist flach und lau. Wind kommt auf und es beginnt zu regnen, dabei bleibt es mild. Das subtropische Feeling wird unterstützt von den dümpelnden Pelikanen. Kanadagansfamilien watscheln umher, stets bewacht von Mama und Papa. Möwen und Schwalben fliegen vorbei und Gelbfuß-Regenpfeifer sausen an der Wasserlinie entlang. Ein Vogelparadies.

Aus Neugier halten wir bei einer Firma in St. Andrews an, die auf ihrem Hof eine große deutsche Flagge gehisst hat. Wir erfahren, dass Großvater Jehle 1930 aus Deutschland ausgewandert ist, zunächst als Farmer. Heute ist der Großteil des Landes verpachtet, der Vater bewirtschaftet nur noch einen kleinen Teil als Hobby. Immerhin verkauft er sein gutes Heu für Pferde bis hinunter nach Georgia im Süden der USA. 19 seiner riesigen Tanktrucks schwirren über ganz Manitoba bis nach Saskatchewan. Beladen mit Magnesiumchlorid sprühen sie im Sommer Schotterstraßen, Parkplätze oder auch Reiterhöfe, um das gefürchtete Stauben bei Trockenheit zu verhindern. Im Winter hilft das gleiche Gemisch anstelle von Salz korrosionsfrei gegen Eis und Schnee. Die Firma verkauft auch ein paar hochwertige Baumaterialien wie eine Art Kunststein für Fassaden aus handbemaltem Polyurethan und Steinstaub, der nicht nur wesentlich leichter ist als echter Stein, sondern nur die Hälfte kostet. Sämtliche Disneylands wurden aus dem Material errichtet. Bruder und Schwester führen uns durch die komplett renovierte 50 Jahre alte Scheune, die heute den standesgemäßen Firmensitz bildet.

Aus dem Starkwind entwickelt sich eine halbe Stunde später ein Unwetter. Tiefste Dunkelheit umgibt uns am Nachmittag. Wir passieren unzählige Gewitterzellen, Regentropfen so groß wie Unterteller platschen gegen die Windschutzscheibe und Manitobas Bauern müssen erneut mehrere Zentimeter Niederschlag erdulden. Mitten im Wolkenbruch winkt uns ein Lkw-Fahrer energisch zur Seite. Alex aus Kirgistan hat hatte 18 Jahre in Minden gelebt, bevor er vor drei Jahren nach Kanada ausgewandert ist. Der passionierte Trucker „fraitt sich soo, dass err triifft jungge Laitte aus Daitschland mit die Unimog“. Dabei sind wir gut und gerne zehn Jahre älter als er. Alex muss mit seiner Terminfracht weiter, er hat Kartoffeln bei einer Pommes-frites-Fabrik abzuliefern. Er möchte uns so gerne mitnehmen, aber auch wir wollen weiter zum Spruce Woods Provincial Park. Manitobas Prärien gelten als extrem langweilig. Ganz so schlimm ist es, zumindest beim ersten Durchfahren, nicht. Die großen Felder werden immer wieder unterbrochen von Windfangbaumreihen, Walstücken, Gehöften und Ansiedlungen. Allerdings führt der Highway erstaunlich lange geradeaus. Unmittelbar vor Spruce Woods wird die Landschaft hügeliger, grüner, Gräser, Laub- und Nadelbäume wechseln sich ab. Ein Teil des Parks Spirit Sands, ist ein wüstenähnliches Areal mit feinsandigen Wanderdünen und Kakteenbewuchs. Hier soll es so gut wie nie regnen. Heute erfüllt sich diese Hoffnung nicht. Ganz Manitoba versinkt im Gewitter und wir lassen uns auf dem ruhigen Parkplatz von Regentropfen in den Schlaf prasseln.

Beausejour, Manitoba: Haushaltstag II

Mittwoch, Juni 16th, 2010

Putzen, Haare schneiden, umräumen: Das Wetter ist herrlich, so wird es Zeit, dass wir endlich die Wollpullover und Winterstiefel aus dem Schrank holen und dafür Shorts und Sandalen einräumen. Ein paar Farmer haben ein Stück Feld geschottert, um gemeinsam eine Scheune zu bauen. Der Bauer klagt, dass die Rapsernte in diesem Jahr buchstäblich ins Wasser fällt. Seit Wochen muss es immer wieder stark regnen. Manche Felder stehen derart unter Wasser, dass die aussehen wie Seen, aus denen ein paar Stoppeln ragen. Wir können hier stehen bleiben, aber gegen Abend stürzen wir in unsere Kabine. Tausende aggressiver Stechmücken haben uns zum Nachtmahl auserkoren, sodass wir unser Heil nur in der Flucht suchen können.

Winnipeg, Manitoba – Haushaltstag I

Dienstag, Juni 15th, 2010

Duschen in einem richtigen Bad, Wäschewaschen und Ölwechsel sind nur drei der überaus spannenden Tätigkeiten, die wir uns heute aufs Programm geschrieben haben. Ich will Euch nicht langweilen…

Winnipeg, Manitoba – Deutsch-russische Vergangenheit in Kanada: die Mennoniten

Montag, Juni 14th, 2010

Die Saison der Black Flies ist zum Glück vorüber, sobald es ihnen zu warm wird. Heute Morgen fühlen sie jedoch  äußerst wohl und zeigen gesunden Appetit. Lokal gekaufte Insektenabwehrmittel wirken gut, aber während Mücken sich von einer Wolke für sie unangenehmen Geruchs weiträumig abschrecken lassen, vermeiden Black Flies lediglich den unmittelbaren Kontakt mit dem Repellent und suchen sich gezielt unbehandelte Körperstellen aus. Da man die Chemikalie nicht in Augennähe verwendet, beißen die Fliegen mit Vorliebe ein Stück Oberlid unmittelbar unter der Augenbraue heraus, wo die Haut besonders weich ist. Großer Beliebtheit erfreut sich auch die Kopfhaut – durch das Haar hindurch.

Nordontario ist die Heimat zahlreicher Stämme der First Nations wie der Sioux und der Cree, um nur zwei der bekanntesten zu nennen. Der Highway zieht sich durch ein Land voller bewaldeter Hügel, Basaltfelsen, Seen und kleiner Flüsse. Der geneigte Kanadier – oder jeder andere Besucher – kann in einer der vielen hübschen Holzlodges seinen Angel- oder Jagdurlaub verbringen. Von einem der Wasserflugplätze lässt man sich zu den besten Fischgründen fliegen. Zum Jagen muss man vermutlich nicht weit laufen. Große kräftige hellbraune Hirsche springen fröhlich über die Straße hin und her. Später sehen wir am Waldrand einen Schwarzbären beim Fressen.

Beim Mittagspicknick noch in Ontario spricht uns ein junges Paar an – auf Deutsch. Die Erklärung für ihre Sprachkenntnisse liefern sie gleich dazu: sie sind Mennoniten. Dabei handelt es sich um eine christliche Glaubensgruppe, weder katholisch noch evangelisch, die die Erwachsenentaufe praktizieren. Erstmals aufgetreten 1537, gerieten die Wiedertäufer, deren ursprüngliche Heimat Norddeutschland und die Niederlande waren, mit der Amtskirche in Konflikt. Mit der Zeit wanderten sie in Richtung Osten bis nach Russland, wo der Zar sie zunächst willkommen hieß. Über die USA emigrierten sie schließlich nach Kanada, wo sich 1776 die ersten Mennoniten niederließen. Ein Großteil von ihnen verließ Russland spätestens ab Gründung der Sowjetunion, da sie sich erneuten Repressalien ausgesetzt sahen. Viele kehrten zunächst in ihre deutsche Heimat zurück, hatten sie sich doch Sprache und Traditionen bewahrt. Da waren sie aber als „Russen“ verpönt und folgten großteils ihren Glaubensbrüdern in die Neue Welt. Die Traditionalisten unter ihnen lehnen auch heute noch die Nutzung moderner Technologien rigoros ab. Sie spannen Pferde vor den Pflug und fahren mit der Kutsche zur Kirche. Der moderne Mennonit unterscheidet sich äußerlich in keiner Weise von jedem anderen Kanadier: Er trägt Shorts, T-Shirt und fährt Auto. Von Conrads und Lois’ vier Kindern haben nur die zwei ältesten ein paar Jahre eine deutsche Schule besucht. Nach einem Umzug wäre das nicht mehr möglich gewesen, so lernen sie nur noch englisch. Conrad gibt uns die Telefonnummer und Adresse seiner Eltern in Winnipeg, das unser nächstes Ziel ist. Sie würden sich über Besuch freuen.

1693 spalteten sich die ultrakonservativen Amish People von den Mennoniten ab. Aus Europa fast vollständig vertrieben, ließen sie sich zumeist in Ohio und Pennsylvania in den USA nieder, einige auch in Ontario. Darüber hinaus gibt es eine dritte Glaubensgemeinschaft der Wiedertäufer. Die Hutterer, meist in Mähren beheimatete Deutsche, praktizierten ab 1525. Ebenfalls verfolgt siedelten sie zunächst in Siebenbürgen, später in der Ukraine, dann in den USA und seit 1918 in Kanada. Die Hutterer leben in urchristlicher Gütergemeinschaft. Mehrere Familien bewirtschaften gemeinsam einen Bruderhof. Sie praktizieren traditionelle Rollenverteilung und ordnen die Interessen des Individuums dem Gemeinwohl unter. Auch heute noch erkennt man sie teils an ihren traditionellen Trachten in gedeckten Farben mit dezenten Mustern bzw. Hosenträgern und Kinnbart. Allerdings sehen sich auch die Hutterer modernen Einflüssen ausgesetzt und die Brüderhöfe verändern ihr Gesicht auf unterschiedliche Weise. Die meisten Mitglieder der drei Glaubensgemeinschaften sind Pazifisten und lehnen Wehrdienst ab, was in Kanada toleriert wurde.

Gleich hinter der Provinzgrenze zu Manitoba hole ich im Besucherzentrum Landkarten Stadtplan und Informationsbroschüren. Die junge Frau spricht auch ein paar Brocken deutsch, da sie es seit einem Jahr an der Universität studiert. Ihre Großeltern seien deutsche Mennoniten gewesen. Von ihren 16 Enkeln sei sie aber das einzige, das etwas Deutsch spreche. Trotz Kanadas Politik der ethnischen Vielfalt geht Kulturgut im Laufe der Zeit durch Angleichung verloren. Steinbach, Rosenort, Sommerfeld, Schoenwiese und Halbstadt sind nur einige der deutschen Ortsbezeichnungen in Zentralkanada. Deutsche sind nach den Briten die zweitgrößte ethnische Gruppe in Manitoba, gefolgt von den Ukrainern.

Kurz vor Winnipeg statuiert ein Schild die Mitte Kanadas – nach Längengraden gemessen, also in Ost-West-Richtung. Die Hälfte hätten wir also geschafft. Rein theoretisch.

Am Abend besuchen wir Conrads Vater David in Winnipeg, seine Frau ist nach Europa verreist. Er zaubert die größten Steaks auf den Grill, die ich je gesehen habe. Wir lernen noch viel über die Mennoniten. So z.B., dass heute 10 % der Einwohner Winnipegs Mennoniten sind, allerdings nur ein Teil davon aktive Gläubige. Die anderen bezeichnen damit lediglich, wie die Studentin in der Touristeninformation, ihre ethnischen Wurzeln. David hatte sich früher als Filmproduzent betätigt. Er drehte unter anderem eine im englischsprachigen Raum mehrfach preisgekrönte 90-minütige Dokumentation über die Historie der Mennoniten. In Deutschland blieb der unter dem Titel „Und wenn sie fragen werden“ erschienene Film weitgehend unbeachtet. David überreicht uns eine Kopie, sodass wir uns die DVD später im Laptop ansehen können.

Thunder Bay, Ontario – Ein tapferer junger Held auf dem Trans Canada Highway

Sonntag, Juni 13th, 2010

Je weiter nach westen wir fahren, desto teurer wird der Kraftstoff. Wenigstens ist der Diesel heute 12 Cent billiger als Benzin, manchmal ist Diesel sogar teurer als Normal. Der Tankwart berichtet mir, dass heute Nacht wieder jede Menge Elche auf der Straße gewesen sind. Die Mücken würden sie aus den Wäldern auf die Straße treiben. Das ist wohl der Grund, warum die meisten Trucker nachts rasten: Es ist einfach zu gefährlich.

Lissys Fahranweisung heute Morgen klingt ermunternd: „Biegen Sie in 474 km links ab.“ Und das auch nur, weil ich die Stadt Thunder Bay als nächstes Ziel eingegeben habe. Sonst könnten wir noch weiter geradeaus fahren. Bei einem Abstecher in einen Seitenweg um uns zu erleichtern entdecken wir ein makabres Endlager. Völlig verbeulte Lkw-Auflieger und Anhänger, die nach einem Zusammenstoß nicht mehr zu gebrauchen sind, werden hier deponiert. Ein paar verunfallte Pkw sind auch darunter. Besonders grausig ist eine Sattelzugmaschine, von der nur noch Chassis und Motor stehen. Das abgerissene Kabinenknäuel ist als solches nur daran zu erkennen, dass sie dieselbe Lackfarbe besitzt.

In einer trostlosen Kleinstadt mit dem deutschen Namen Schreiber gönnen wir uns einen Burger, schließlich ist Sonntagmittag. In dem Familienbetrieb müssen wir zwar eine halbe Stunde aufs Essen warten, dafür ist der Fleischklops handgeformt und die Pommes frisch frittiert. Eine gut gekleidete Vierergruppe Ausflügler kommt zur Tür herein, nachdem sie Arminius ausgiebig bewundert hat. Eine der Frauen umarmt mich spontan und gratuliert uns zu unserem Fahrzeug.

Der Trans Canada Highway führt uns weiter westwärts. Bis in die 1960er Jahre hinein gab es in Kanada keine durchgehende Ost-West-Verbindung aus asphaltierten Straßen. Der Autoverkehr zwischen den Provinzen erfolgte teilweise über die USA. Erst 1965 wurde das letzte Straßenstück asphaltiert, um bereits in den Regionen vorhandene Teilstücke zu verbinden. Seitdem führt der TCH von St. Johns auf Neufundland nach Victoria auf Vancouver Island. In manchen Gebieten gibt es sogar mehrere parallel laufende Zweige unter der Bezeichnung TCH. Die kürzeste Route durch die zehn kanadischen Provinzen ist knapp 7.400 km lang inkl. drei Fährstrecken.

83 km vor Thunder Bay trägt ein Teil des TCH den Namen Terry Fox Courage Highway. Terry Fox war ein bemerkenswerter junger Mann. Er wurde nur 22 jähre alt. Terry trug eine Prothese, seitdem er mit 18 Jahren aufgrund eines Krebsleidens ein Bein verloren hatte. Im April 1980 brach er in St. Johns zum Marathon of Hope auf, der ihn in Tagesetappen von 42 km über den gesamten TCH nach Vancouver Island führen sollte. Damit wollte er nicht nur Lebensmut demonstrieren, sondern auch Spenden für die Krebsforschung sammeln. Blieb sein Lauf anfangs unbeachtet, wurden die Medien mit der Zeit auf ihn aufmerksam und die Menschen feierten ihn auf den Straßen. Es kamen Gelder in Höhe von 24 Millionen Dollar zusammen. Nach 5.373 km in 143 Tagen musste Terry kurz vor Thunder Bay aufgeben. Wenig später starb er. Sein Leben wurde verfilmt und ihm wurden mehrere Denkmäler gesetzt, eines davon in Thunder Bay. Heute werden jährlich an den meisten Schulen und in vielen Orten kurze Terry-Fox-Läufe zugunsten der Krebshilfe abgehalten.

Ein kanadisches Gesetz untersagt das Mitführen geöffneter Behältnisse mit alkoholischen Getränken auf öffentlichen Straßen, als Fußgänger wie auch im Fahrgastraum eines Fahrzeugs. Da in Mitteleuropa vermutlich nicht viele Autofahrer auf die Idee kommen würden, mit einer offenen Bierbüchse am Steuer durch die Gegend zu fahren, mutet diese Vorschrift zunächst eigentümlich an. Nach unserer Erfahrung mit den Harleyfahrern beobachten wir ein weiteres seltsames Verhalten. Auf dem Picknickplatz, auf dem wir uns für die Nacht niedergelassen haben, fährt ein Pkw. Das Pärchen steigt aus, holt zwei Büchsen Bier aus dem Kofferraum, zischt sie innerhalb von Sekunden weg, entsorgt die leeren Dosen – trotz vorhandener Müllcontainer – mit einem gezielten Wurf im Wald und fährt davon. Zugegeben, im Allgemeinen wird nicht so schnell gefahren wie in Deutschland, die Verkehrsdichte ist längst nicht so hoch und ein gewisser Alkoholpegel wird am Steuer durchaus toleriert. Aber vielleicht birgt das Gesetzt doch mehr Sinn als auf den ersten Blick erkennbar.

Sault St. Marie, Ontario – 3000 km Motorradritt zur Hochzeit

Samstag, Juni 12th, 2010

Das vermutlich bemerkenswerteste an Sault St. Marie ist seine Lage am Zusammenfluss von Lake Huron und Lake Superior sowie seine Schleusenanlage, sonst gibt die Stadt wenig her. Außerdem hat sie eine Schwesterstadt gleichen Namens auf US-Seite in Michigan und ein umfangreiches Einkaufszentrum. Das einzige für weitere 700 km, dort erst folgt die nächste größere Stadt. Verhungern und verdursten müssen wir trotzdem nicht. Entlang des Trans Canada Highway gibt es alle paar Kilometer ein Lebensmittelgeschäft und einen staatlichen Liquor Store. Die Versorgung der Kanadier mit Alkohol ist also trotz – oder dank – staatlicher Kontrolle sichergestellt. Für den, der es sich leisten kann. Denn der Staat scheint nicht schlecht daran zu verdienen. Bier ist noch teurer als Milch. Eine kleine Flasche mit den bereits erwähnten 341 ml kostet fast zwei Dollar. Von Wein und anderen Alkoholika nicht zu reden. Immerhin gibt es, pünktlich zur Fußball-WM, Bier im Sonderangebot. Obwohl ich nicht sicher bin, inwieweit sich die Kanadier für Fußball interessieren. Jedenfalls sind 28 Flaschen Bier zum Preis von 24 erhältlich. Wobei es eine echte Herausforderung für mich darstellt, 28 Flaschen Bier, wenn auch kleine, in unserer Kabine zu verstauen. Man glaubt es nicht, wo sich außer im Kühlschrank Bier so findet: im Backofen zum Beispiel, oder neben dem Mülleimer. Einzige Ausnahme im staatlichen Kontrollsystem ist Québec, das es sich nicht nehmen lässt, Bier, Wein und Schnaps in jedem Supermarkt zu verkaufen. Was an den Preisen nicht viel ändert.

Ein Trucker hat seinen Lkw umgeworfen und liegt samt Fracht im Graben. Unglücklicherweise ist er mit Ölfässern beladen gewesen, die bei dem Unfall schaden genommen haben. Eine ganze Anzahl von schwimmenden Ölbarrieren soll verhindern, dass das Umweltgift über den kleinen Bach in den See fließt. Ein paar Kilometer weiter hübscht sich die Landschaft auf. Es wird zunächst hügeliger, gefolgt von bewaldeten Bergen. Der Highway kurvt am Ufer des Lake Superior entlang. Eine Großfamilie Kanadagänse watschelt auf dem Seitenstreifen. Die grau-braunen Wasservögel mit schwarzem Hals und Kopf werden hier auch, angelehnt an die Ojibwe-Sprache, Wawas genannt. Wir haben Spaß, die großen hoch motorisierten amerikanischen Trucks bergauf mit 100 Sachen abzuziehen: Der Wunschtraum eines jeden Unimogfahrers.

Auf dem Parkplatz an der Zufahrt zum Lake Superior Provincial Park treffen wir zwei Harley Davidson Fahrer, die eine Pause eingelegt haben, um ein Bier zu schlürfen und eine Zigarette zu schmauchen. Wir kriegen auch ein Bier. Die beiden fahren mal eben 3000 km zu einer Hochzeit und um den Sohn des einen Fahrers zu besuchen. Bei uns in Deutschland käme vermutlich niemand auf die Idee, mit dem Motorrad mal eben nach Südgriechenland zu einer Party zu fahren. Ich schätze kurz den Inhalt der je drei Packtaschen ab. In einer dürften der Anzug für die Hochzeit, Zahnbürste und weitere Reisenecessaires sein; die Biker schlafen im Motel, wie sie erzählen, und brauchen daher kein Zelt und Schlafsack. Damit sind die beiden anderen Koffer wahrscheinlich frei für Bier. Man muss eben Prioritäten setzen.

Ein kurzer, aber steiniger und steiler Trail führt uns zu indianischen Wandmalereien am Agawa Rock an einer Steilwand am Seeufer. Man muss sich an einer Metallketten entlang hangeln, um nicht von den schrägen glatten Steinen am Fuß der Felswand abzurutschen. Dicke Taue hängen vertikal ins Wasser hinein, mit deren Hilfe man sich wieder ans Ufer retten könnte, sollte man ins Wasser gefallen sein. Gefahr droht, wenn unerwartet große Wellen die Wanderer von den Steinen waschen. Warnschilder künden von etlichen Todesfällen. Heute ist es jedoch traumhaft ruhig an der heiligen indianischen Stätte. Die 150 bis 400 Jahre alten Tier- und Bootszeichnungen der Ojibwe sind nicht übermäßig beeindruckend, aber die Bucht mit glasklarem Wasser ist ein schöner Ort. Der Weg durch einen schmalen hohen Canyon macht Laune, erfordert wegen der glitschigen Steine aber Umsicht.

Wir scheuchen a Straßenrand eine Schar Geier auf, die sich an einem verendeten Elch gütlich tun. Gegen Abend steuern wir am Rande des Städtchens Wawa wie die Gans einen Truckstop an. Samstags sind hier glücklicherweise nicht allzu viele Lkw, die ihren Motor die ganze Nacht laufen lassen, da es bei 15°C unerlässlich ist, die Klimaanlage zu betreiben. Die paar, die dennoch parken, machen aber Lärm genug. Kanada steht – leider – zusammen mit den USA weltweit an der Spitze der Energieverbraucher. Oder besser gesagt Verschwender. Was sich hier mal wieder beweist. Dafür scheint der Platz ein Geheimtipp unter Wohnmobilfahrern zu sein. Ein reisebusgroßer Camper steht bereits da, mit einem Pkw im Schlepptau, an dem wiederum zwei Fahrräder befestigt sind. Das Ehepaar fährt mindestens fünf Markisen mit sich herum, mit denen sie – ausgerollt – halb Wawa beschatten könnten. Kurze zeit später kommt ein ähnlich großes Fahrzeug besetzt mit drei Personen. Da wird der Platz schon ein wenig eng. Deshalb ziehen die einen Anhänger hinter sich der, der so groß ist wie unsere ganze Kabine. Völlig neidlos betrachte ich die vier ausfahrenden Hydraulikstempel, die das Motorhome automatisch in eine nivellierte Lage bringen. Da ein Reisebus, wie schon erwähnt, wenig Platz für drei Insassen bietet, gleiten jetzt auch noch die Seitenwände nach rechts und links außen, um den Raum zu erweitern. Immerhin besuchen uns die drei am Abend und laden uns nach Alberta ein. Ein weiteres Haus auf Rädern trifft ein.

Parry Sound, Ontario – Reden statt Fahren

Freitag, Juni 11th, 2010

Einkaufstage sind anstrengende Tage. Nicht wegen der paar Sachen, die wir besorgen müssen, sondern wegen den vielen Gesprächen, die wir führen. Am Vormittag fahren wir auf den Parkplatz von Canadian Tire, schon sprechen uns die ersten Leute an. Kaum zurück vom Shoppen, werden wir schon wieder in Gespräche verwickelt. Nach dem Einkauf im Sobeys Supermarkt stehen wir erneut im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Auf dem Parkplatz vor dem Liquor Store geht es weiter. Frauen, Männer, Junge, Alte. Erstaunlich viele Kanadier sprechen deutsch. Meist sind es ehemalige Armeeangehörige, die in Deutschland stationiert gewesen waren. Überhaupt scheint das kanadische Militär seine Offiziere gut auf Auslandseinsätze vorzubereiten. Ob Paschtu oder Farsi, Russisch oder Arabisch, wir treffen Ex-Troop-Mitglieder mit den unterschiedlichsten – fließenden – Sprachkenntnissen. Es ist drei Uhr nachmittags und ich habe es gerade geschafft, eine Scheibe Brot zu essen. Ich bin fix und fertig, ohne auch nur einen Kilometer in die gewünschte Richtung gefahren zu sein. Wir haben x Einladungen in den Wind geschlagen, da wir heute wenigstens noch ein paar Meilen zurück legen wollen. Vielleicht sollten wir das Einkaufen auf die Abendstunden verlegen, dann können wir das nächste Mal vielleicht eine Offerte annehmen. Man beginnt ein Gespräch, und nachdem man 75 % der gewünschten Informationen weiter gegeben hat, gesellt sich eine neue Partei dazu, die natürlich den verpassten Rest auch erfahren will. Noch bevor man das Gespräch beendet hat, kommen weitere Neugierige hinzu. Das Ganze wird zur unendlichen Geschichte. Wir sollten vielleicht doch Broschüren drucken und verteilen. Eine LED-Laufschrift am Truck wäre auch eine schöne Idee.

Der Diesel ist wieder teurer geworden. Aus unerfindlichen Gründen jedoch gibt uns ein Tankstellenbesitzer – nach ausführlicher mündlicher Information zum Fahrzeug und zur Reise natürlich – zwei Cent Rabatt pro Liter, das macht es fast wieder wett.

Niagara Falls, Ontario – Touristen in Plastiktüten an gezähmten Rekordfällen

Donnerstag, Juni 10th, 2010

Der Niagara Parkway von Niagara-on-the-Lake nach Niagara Falls führt uns vorbei an gepflegten Anwesen mit Häusern, deren Wert ich nicht zu schätzen vermag. Rasenflächen, Bäume, alles ist grün, grün, grün. Ein schickes Weingut reiht sich ans andere, hier befinden sich die meisten Wineries Kanadas. Rebstöcke stehen in einer Reihe wie mit dem Lineal gezogen, jeweils am Ende steht ein rot blühender Rosenbusch. Wie schon in Prince Edward County fallen uns auch hier die vielen deutsch und niederländisch klingenden Namen auf.

In Niagara Falls hat der günstigere Wohnmobilstellplatz am Stadtrand für 10 $ inklusive Bustransfer zu den Attraktionen noch geschlossen. Wir müssen für 18 $ Tagespauschale in der Stadt parken, aber immerhin berechnet man für unser kleines, sprich kurzes Mobil den Pkw- statt des 2 $ teureren Campertarifs. Die kostenlose Aussichtsterrasse an den Niagarafällen bietet den besten Blick auf die Fälle, die kanadische Seite weit besser als die amerikanische. Der Eriesee ergießt sich über den 56 km langen Niagara River in den 99 m tieferen Lake Ontario, was eine äußerst hohe Fließgeschwindigkeit zur Folge hat. Die Niagarafälle bestehen aus den kleineren American Falls und den größeren Horseshoe Falls, die ihren Namen ihrer Hufeisenform verdanken. Letztere sind 54 m hoch und 675 m breit, was einen Wasserfall noch nicht spektakulär macht. Den Superlativ bringen die enormen Wassermassen, die auch heute noch, trotz Reduktion durch mehrere Wasserkraftwerke um bis zu 75 %, in die Tiefe donnern. 154 Millionen Tonnen pro Minute sind es jetzt im Sommer, gut die Hälfte im Winter. Die Wasserentnahmen haben die Erosion der Fälle erheblich eingedämmt. Hat sich der Wasserfall früher um einen Meter pro Jahr rückwärts bewegt, sind es heute gerade mal 30 cm in zehn Jahren. Seit ihrer Entstehung von rund 12.000 Jahren nach der letzten Eiszeit haben die Fälle etwa 11 km des weichen Sandsteins abgeknabbert.

Mintgrünes Wasser schießt über die Kante hinweg und schäumt beim Auftreffen weiß wie eine Waschmaschine im Kochwaschgang. Der Aufprallbereich ist nur schwer einzusehen, da eine riesige Gischtwolke bis weit über die Abbruchante hoch spritzt. Am Fuß der Fälle, wo das Wasser gurgelt, nähert sich alle paar Minuten ein Boot voller Touristen. Die Maid of the Mist – die Dunstfräuleins – wie sie seit 1846 alle heißen, fährt bis weit in den Spray hinein wo das Donnern des Wassers die Ohren betäubt. Auf halber Höhe des Felsens hat man einen Tunnel hinter den Wasserfällen gegraben, die Journey Behind the Falls. Hier wird man, wie auf den Booten auch, in überdimensionale Plastiktüten mit Kapuze verpackt, denn auf der Plattform direkt seitlich der Fälle wird es nass. Zwei weitere Aussichtsöffnungen hinter dem Wasservorhang lassen die Gewalt des Wassers erahnen. Es gibt dutzende anderer mehr oder weniger sinnvoller Touristenattraktionen rund um die Niagarafälle, die vermutlich nicht alle ihren hohen Eintrittspreis wert sind. Wir kehren Niagara, durchaus beeindruckt, den Rücken, tanken zum ersten Mal für unter 90 Cent den Liter und fahren in Richtung Nordwest.

Toronto, Ontario – Window-Sightseeing im Schritttempo

Mittwoch, Juni 9th, 2010

Den Plan baden zu gehen verwirft Jörg schneller als gedacht. Wellen peitschen an den Strand, Regen prasselt nieder. Das Wasser ist nicht mehr transparent-blau sondern hat eine milchig-trübe grün-braune Färbung angenommen. Belaubte Äste wiegen sich im Wind. Auch das ein Bild einmaliger Schönheit.

Kurz vor Toronto haben wir unseren ersten ernsthaften Disput mit Lissy. Sie will partout nicht den Highway Nr. 2 am Seeufer entlang fahren. Also packen wir den Stadtplan aus und navigieren wie in vorelektronischen Zeiten, bis wir ein Übereinkommen mit unserem Navi treffen können. Alle Kanadier, mit denen wir sprachen, rieten uns von einem Besuch Torontos ab. Ontarios Hauptstadt sei mit 2,5 Millionen Einwohnern – Einzugsgebiet 5,8 Millionen – einfach nur riesig ohne besondere Attraktionen zu bieten, es sei denn man möchte shoppen oder sich ins Nachtleben stürzen. Entlang der Uferstraße könne man alle interessanten Gebäude der Skyline vom Auto aus sehen. Da wir entgegen aller Empfehlungen erst um halb vier ankommen, landen wir mitten in der Rushhour. Was den Vorteil hat, dass wir nur im Schritttempo fahren und alles in Ruhe anschauen und fotografieren können. Das Wetter spielt auch nicht ganz mit: Extrem tiefliegende Wolken verhüllen die Wolkenkratzer. Die Spitze des CN Towers ist nur zu erahnen. Da die Metropolitan Area von Toronto ein sehr großes Gebiet umfasst und das Stadtgebiet nicht zu enden scheint, kommen wir erst ein paar Stunden später in Niagara-on-the-Lake an. Die viktorianische Kleinstadt voller Prachtbauten hat vor wenigen Jahren zu Recht den Titel Prettiest Town of Ontario – hübscheste Stadt von Ontario – errungen. Dank vieler amerikanischer Touristen – die USA sind einen Katzensprung über die Brücke entfernt – ist alles maßlos überteuert; die vornehmen Boutiquen wie die unterschiedlichsten Restaurants. 24 $ plus Steuer und 15 % Trinkgeld für eine simple Portion Spaghetti Bolognese scheinen irgendwie übertrieben. Das Ganze erinnert an Kampen auf Sylt: schön, aber snobistisch. Am Stadtrand finden wir einen Parkplatz, der nur tagsüber gebührenpflichtig ist.

Prince Edward County, Ontario – Deutscher Wein und Mücken á la Hitchcock

Dienstag, Juni 8th, 2010

Der linke kleine Zeh juckt. Das muss das Reisefieber sein. So gut es uns bei Myra und Dan gefallen hat, wir müssen „on the road again“. Der Weg führt uns stramm nach Süden und dann an der US-amerikanischen Grenze entlang Richtung Westen. Wir passieren Kingston, das als eine der schönsten Städte Ontarios gilt. Dort befindet sich das andere Ende des Rideau Canal. Eine kurze Fährfahrt bringt uns nach Prince Edward County. Die Halbinsel im Lake Ontario ist ein wunderschönes Fleckchen Erde. Schlossähnliche Holz- und Steinhäuser prangen auf riesigen ungezäunten Grundstücken, die ausnahmsweise nicht ausschließlich von gepflegtem Rasen bewachsen sind, stattdessen ragen große alte Laubbäume in den Himmel – mein Traum. Dazwischen Laubwälder aus einem anderen Zeitalter, ein mystischer hochgelegener schwarzer See ohne erkennbaren Zufluss, Weinreben, und drum herum blaues Wasser und weitere Baum bestandene Inseln.

Wir machen einen Abstecher zur Waupoos Winery. Ed Neuser, der deutsche Besitzer, lässt nicht lange auf sich warten, er wird magisch von unserem Vehikel angezogen. Eds Englisch ist besser als sein Deutsch, er ist schon in den 50er Jahren ausgewandert. Waupoos sei das älteste Weingut der Halbinsel. Laut Ed ist Prince Edward County die kälteste Region der Welt, in der Wein angebaut wird. Da im Winter regelmäßig minus 30 Grad erreicht würden, wären spezielle Techniken wie Rebsorten erforderlich. Der klassische Riesling darf nicht fehlen. Interessant nach Pfirsich, Grapefruit und Kräutern duftet der Geisenheim. Diese Hybridtraube wurde erstmals in der gleichnamigen deutschen Stadt aus einer Rieslingtraube auf einem russischen Rebstock gezogen, ist aber in Deutschland nicht populär, erklärt uns die junge Winzerin. Es ist sechs Uhr abends und Ed erkennt schnell, dass wir einen Stellplatz für die Nacht benötigen. Er gibt uns den entscheidenden Tipp und die detaillierte Landkarte dazu: Am Südostende der Insel kurz vor einem Naturschutzgebiet führen kleine Schotterwege an den See, niemand würde uns dort behelligen. Auf der Suche nach dem besten Platz kommt uns ein Pkw entgegen, wendet, um uns anschließend hartnäckig zu verfolgen. Schließlich halten wir an um herauszufinden, was der Fahrer will. Der Einwanderer unbestimmter Herkunft hat ebenfalls erkannt, dass wir einen Schlafplatz brauchen. Er bittet uns zu warten und bietet sich an, für uns zu suchen. Er kehrt zurück, wir folgen ihm zur empfohlenen Stelle, da ist er nach einem kurzen Plausch auch schon wieder verschwunden. Der Strand ist perfekt. Flache runde Kieselsteine werden umspült von glasklarem spiegelglattem Wasser. Der Kiesstrand ist weich, ohne Vierradantrieb und Differenzialsperre geht hier nichts. Die Sonne steht hoch über den Bäumen, morgen früh wird sie über dem See aufgehen. Vorgelagerte Inseln sind Heimat unzähliger Vögel. Das Wasser ist kalt wie in den großen Seen üblich, aber Jörg möchte morgen baden gehen. Die Idylle wäre perfekt, wenn, ja wenn die nicht die Mücken wären, die sich sofort auf Arminius niederlassen, uns aber verschonen. Mit großer Erleichterung registrieren wir, dass sie nicht stechen. Das Szenario ist trotzdem ein wenig furchteinflößend. Myriaden von Mücken schweben wie eine schwarze Wolke über unseren Köpfen bis hoch in den Himmel. Ihre milliardenfachen Flügelschläge verursachen ein Geräusch als ob man unmittelbar vor einem Bienenstock stünde. Als wir in die Kabine gehen, kriechen dutzende von ihnen wie in einem Hitchcock-Thriller auf unseren Fensterscheiben herum. Noch Tage später werden wir einzelne Exemplare, die irgendwo ein Schlupfloch gefunden hatten, aus unserer Kabine entfernen.

Ottawa, Ontario – Ein Traum wird wahr: Mythos Harley Davidson

Montag, Juni 7th, 2010

Wie eine Burg muten die Regierungsgebäude Kanadas an. Die neugotischen Bauten thronen auf dem Parliament Hill. Die kostenlose Besichtigungstour führt durch das House of Commons, den Senate und die wunderschöne mehrstöckige runde Bibliothek, die tausende von Büchern in edelhölzernen mit Schnitzereien verzierten Regalen birgt. Der Peace Tower, die Kleinausgabe des Big Ben, überragt den mittelalterlich wirkenden Komplex. Täglich um 12 Uhr ertönt das Glockenspiel. Über einen Aufzug hat man Zugang zum Turm und kann von dort die Stadt überblicken. Trotz ihrer fast 900.000 Einwohner wirkt Ottawa heimelig und grün, was nicht zuletzt daran liegt, dass die Stadtverwaltung den Bau von Hochhäusern verhindert hat. Im Anschluss fährt uns Dan noch am Sitz des Gouverneur General vorbei. Die Stellvertreterin der Queen in Kanada residiert standesgemäß in einer Art Palast, umgeben von einem ausladenden öffentlichen Park.

Der Nachmittag verläuft nicht ganz so entspannend. Wir müssen Arminius Reifen rotieren um gleichmäßige Abnutzung zu gewährleisten. Unter Einbeziehung des Reserverades und unterbrochen von zwei heftigen Regenschauern zwischen Sonnenscheinperioden arbeiten wir drei – Dan hilft uns netterweise – mehrere Stunden.

Am Abend erfüllt sich für Jörg ein Wunschtraum: Er darf Harley Davidson fahren. Erst Myras kleine 900er, dann Dans große 1700er. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht genehmigt er sich anschließend das erste Bier.

Ottawa, Ontario – Eine kluge Königin und handgekurbelte Schleusen

Sonntag, Juni 6th, 2010

Schon wieder sind wir in Québec gelandet. Gatineau ist die Schwesterstadt Ottawas und nur durch eine Brücke über den Ottawa River von der Hauptstadt getrennt. Die britische Königin Victoria hatte 1857 mit Bedacht Ottawa den anderen Bewerbern Montréal, Kingston und Toronto als Capital vorgezogen. Die Lage an der Grenze zwischen anglo- und frankophonem Kanada in ausreichender Entfernung zu den damals nicht allzu freundlich gesonnenen USA machte die Kleinstadt voller raubeiniger Holzfäller und völlig ohne Infrastruktur zur idealen Wahl. Trotz heftiger Proteste stellte sich die Entscheidung als äußerst kluges Votum heraus. Mangels besserer Alternativen baute man eine verkleinerte Westminsterkopie samt Londoner Big Ben in die Wildnis. Heute ist Ottawa eine florierende Metropole, die sich im Gegensatz zu vielen Hauptstädten dieser Welt ihren provinziellen Charme in angenehmer Weise erhalten hat.

Zunächst aber besuchen wir das Canadian Museum of Civilisation auf der Québec-Seite. Auf einer Reise, die einen an abertausenden Museen vorbei führt, pickt man sich gezielt die Rosinen heraus, zumal wenn man nicht unbedingt passionierter Museumsgänger ist. Dieses historische Museum ist phänomenal. Das gesamte Basement ist der Geschichte der First Nations gewidmet, wie man Indianer und andere Ureinwohner heute nennt. Einen Großteil der Ausstellungsstücke inklusive der Totempfähle darf man anfassen. Das haptische Erleben einer Ausstellung hinterlässt viel intensivere Eindrücke als rein visuelle Wahrnehmung. Das Postmuseum mit unzähligen Briefmarken und das vorbildliche auch für Erwachsene lehrreiche Kindermuseum der 2. Etage überlassen wir der Jugend. Es ist Sonntagnachmittag, das Museum ist bei Regenwetter Ziel vieler Familien. Das dritte Stockwerk zeigt anschaulich die Geschichte der letzten 1000 Jahre Kanadas, insbesondere der Besiedelung durch Weiße. Eine ganze Kleinstadt wurde aufgebaut. Man wandelt in den Gassen umher und kann die Druckerei, den Schuster oder den Schmied des 19. Jahrhunderts besuchen. Die Beleuchtung ist so geschickt arrangiert, dass man meint, durch einen nächtlichen Ort zu flanieren.

Über die Brücke laufen wir zurück nach Ottawa ins überschaubare Zentrum. Gleich nebenan fließt der Rideau Canal in den Ottawa River, der eine Verbindung zum Lake Ontario jenseits des St.-Lorenz-Stroms darstellt. Die Engländer bauten die Wasserstraße, die aus einer über 200 km langen Kette aus Seen und Kanalstücken besteht, Anfang des 19. Jahrhunderts mit enormem Aufwand, um Transporte nach Toronto auch im Fall eines Konflikts mit den Amerikanern zu sichern. Knapp 50 der zumeist handbetriebenen Schleusen überwinden 84 m Höhenunterschied, sechs davon direkt an der Kanalmündung, allesamt denkmalgeschützt. Eines der jährlich 90.000 Freizeitboote fährt gerade stromabwärts, so können wir den Schleusern beim Kurbeln zusehen. Es sieht nach harter Arbeit aus.

Der Byward Market – Bytown ist der der alte Name Ottawas – entspricht vielleicht nicht internationalen Standards, ist dafür angenehm und sympathisch. Ein zentraler Food Court mit Konditoreien und Imbissecken aus aller Welt ist umgeben von zahlreichen Obst- und Gemüseständen und Delikatessenläden. In einer Fromagerie erstehen wir zwei 500-g-Wagenräder Camembert und Brie zu je erfreulichen sechs Dollar. Ein kleiner Nachteil am Reisen ist , dass man meist nicht weiß, wo man was am besten oder günstigsten bekommt, sondern man rennt in den nächstbesten Supermarkt. Vor allem Käse ist – neben Brot – eine Herausforderung für verwöhnte Gaumen. Leckerer Importkäse verträgt sich nicht mit unserem Reisebudget. Alternative sind entweder Schmelzkäsescheiben, bei deren chemischer Zusammensetzung der Ingredienzien sich mir die Nackenhaare aufstellen, oder idiotisch geformte Käsebarren von zwei Zentimeter Höhe, acht Zentimeter Breite, aber 30 cm Länge, aus denen man prima Würfel schneiden kann, die aber zum Belegen von Brot völlig ungeeignet sind. Der Cheddar aller Altersstufen und der sogenannte Mozarella, der außer dem Namen nichts mit dem italienischen Original gemein hat, sind so hart, dass man damit zur Not auch einen Feind erschlagen kann. Als die Marktstände schließen, gibt es unterschiedliche Sorten Obst für 1 c$ die Schachtel oder Tüte: Erdbeeren, Kirschen, Brombeeren oder Pfirsiche, was immer das Herz begehrt.

Myra kocht gern und gut. Heute Abend gibt es Spaghetti mit Muscheln in Tomatensoße und grünem Spargel. Wer kann da schon nein sagen.

Ottawa, Ontario – Wal-Mart oder Vorstadtfamilie?

Samstag, Juni 5th, 2010

Die Stromschnellen am Zusammenfluss von Ottawa und St. Lawrence River beendeten 1535 Jaques Cartiers Expedition ins Binnenland Kanadas im heutigen Montréal. Der Entdecker des St.-Lorenz-Stroms kämpfte mit der geringen Wassertiefe, während die Indianer in ihren Kanus schon seinerzeit die Hürde überwanden. Nach dem Bau des ersten Kanals 1826 wurde 1959 eine zweite Umgehung der Stromschnellen für Ozeandampfer fertig gestellt. Damit ist der St.-Lorenz-Strom durchgehend vom Atlantik bis in die großen Seen befahrbar und Montréal wurde – 1600 km vom Meer entfernt – zu einem der weltgrößten Binnenhäfen.

Wir überfahren die Grenze zu Ontario und erreichen am Nachmittag Ottawa. Im Supermarkt am Stadtrand registrieren wir erfreut, dass die Preise zum ersten Mal gemäßigter sind, wenn auch nach wie vor weit über deutschem Standard. Ontario liegt zentraler und hat daher geringere Transportkosten als der Osten, außerdem niedrigere Steuern, was sich ab Juli ändern soll. In Kanada legt jede Provinz ihre Verkaufssteuern individuell fest.

Kanadas Hauptstadt bietet so gut wie keine Parkmöglichkeiten für Wohnmobile, so klein sie auch sein mögen. Wir beschließen, zum ersten Mal bei Wal-Mart zu übernachten. Die große Supermarktkette bietet Campern in ganz Nordamerika die Möglichkeit, kostenlos auf deren Parkplätzen zu nächtigen. Sie erhoffen sich im Gegenzug, dass man dort einkauft – was meist zutrifft. Sollte das nächtliche Parken an einem Markt nicht erwünscht oder erlaubt sein, wird im Regelfall per Schild darauf hingewiesen. Kein Zeichen weist uns beim 24-Stunden-Supermarkt ab, so richten wir uns zwischen ein- und ausparkenden Autos und zwecks Wochenendeinkaufs hektisch wuselnden Menschen gemütlich ein. Die Ruhe währt nicht lange. Zwar waren auch die Menschen in Québec freundlich, offen und neugierig und bewunderten unseren Truck, aber wir wurden seltener angesprochen. Was an sprachlichen Unsicherheiten liegen mag, schließlich geht man nicht automatisch davon aus, dass Reisende in einem deutschen Fahrzeug französisch sprechen, aber auch an der etwas zurückhaltenderen frankokanadischen Mentalität. Auf dem Parkplatz vor einem Einkaufszentrum Ottawas dagegen sind wir die Attraktion. Dutzende Leute sprechen uns an. Arminius ist eine Art Kommunikationsverstärker. Bis Dan und Myra beschließen, uns zu adoptieren und nach Hause zu nehmen. Also tschüs Wal-Mart, wir fahren dann doch lieber in die Vorstadt auf das Gartengrundstück, zu Tochter Megan, dem energetischen Boxerteenager Daisy, Kater Sylvester sowie einer weitere Katze die ich nicht kennengelernt habe, zu Pasta, Bier und Lagerfeuer. Welch hartes Leben.

Montréal, Québec – Kulturschock

Freitag, Juni 4th, 2010

Heute ist Premierentag: Wir schwitzen zum ersten Mal. Zwar zeigt das Thermometer nur 25° an, aber die zwischen den Häusern gespeicherte Wärme einer Stadt fühlt sich anders an. Auf dem Weg nach Montréal stehen wir zum ersten Mal im Stau. Der Freitagsverkehr ist hier genau so dicht wie in jeder anderen Großstadt. Lissys Französisch hakt zwar gewaltig, aber heute sind wir für ihre Anwesenheit besonders dankbar. Ein schier unüberschaubares Netz von Autobahnen, Kreuzen, Ein- und Ausfahrten überzieht die Inseln im St.-Lorenz-Strom. Mit Satellitennavigation ist es schlicht einfacher. Und Arminius fährt zum ersten Mal durch eine Millionenstadt. 1,6 Millionen sollen es alleine im Stadtgebiet sein. Da auch hier Parken für Wohnmobile kaum möglich ist, steuern wir gezielt einen Parkplatz an der Marina am Vieux Port, dem alten Hafen, an. Dort dürfen wir gegen Gebühr bis zum nächsten Morgen um 6 Uhr bleiben, sind dafür mitten in der Stadt und können alles zu Fuß erkunden ohne öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Dass sich der Platz nach der letzten Vorstellung des benachbarten Cirque du Soleil, der weltberühmten Artistikshow, nur halb leert und wir anschließend bis in die frühen Morgenstunden kostenlos von Discomusik und mit lautem Radio abfahrenden Autos beschallt werden, können wir natürlich noch nicht wissen.

Der 350 Jahre alte Gründungsdistrikt Vieux Port und Vieux Montréal war früher von einer Stadtmauer umgeben, die allerdings der Expansion weichen musste. Das im letzten Jahrhundert restaurierte Viertel besitzt historischen Charme. Unzählige Restaurants, Galerien, Maler, Antiquitäten-, Kunst- und Teppichgeschäfte haben sich hier angesiedelt. Noch hält sich die Anzahl der flanierenden Touristen in Grenzen, aber ab dem nächsten Monat soll sich das ändern. Wir wandeln durch Downtown und Quartier Latin. In China Town, das im frankophonen Sprachraum Quartier Chinois heißt, kaufen wir in einem chinesischen Supermarkt für Kanada unglaublich günstiges Gemüse. Eine Gurke kostet einen statt drei Dollar, das Pfund Tomaten 69 Cent, sonst bis zu vier Dollar, ein Pfund frische Nudeln 1,50. In den kaum mehr als einen halben Meter breiten Gängen drängeln sich die Leute ungeniert mit ihren Einkaufskörben zwischen Tofu und Tütensuppen, dazwischen sitzt eine asiatische Verkäuferin mit eingezogenen Beinen am Fußboden und räumt Regale ein.

Eine Besonderheit Montréals ist die U-Bahn. Zwar haben die meisten Städte ein paar Kioske und Läden in den Gängen. Montréal aber hat über 150 Eingänge in ein 30 km langes unterirdisches Geflecht aus Plätzen, Straßen und Kreuzungen mit 1800 Geschäften, 200 Restaurants, Anbindung an Theater, Kinos, Hotels, die Universität, eine Kirche, Shopping Malls und etliche Bürotürme. Hunderttausende Pendler müssen – vor allem im kalten Winter – keinen Schritt nach draußen gehen sondern wuseln wie Ameisen den ganzen Tag im Untergrund herum.

Montréal ist schön, Montréal ist interessant. Für uns ist der krasse Unterschied zwischen rauer Wildnis in Labrador, Schotterpisten, auf denen man fünf Stunden lang niemanden begegnet einerseits und zehntausenden Autos auf der Straße und Frauen, die unwesentlich mehr als nichts am Leib auf plateauhohen Schuhen umher balancieren andererseits nicht ganz einfach zu verarbeiten. Wir Europäer sind, was Städte anbelangt, sehr verwöhnt. Mélie und Mike haben Montréal je in nur einem Satz beschrieben. Mélie meinte, Motréal ist phantastisch. Mike sagte, naja, es ist halt eine Stadt. Die beiden haben es auf den Punkt gebracht.

Québec City, Québec – Ein Stück Frankreich in Amerika

Donnerstag, Juni 3rd, 2010

Québec City ist nicht nur die älteste Stadt des Kontinents, sondern mit Festung, intakter Stadtmauer und Altstadt auch die einzige nach europäischen Vorbild befestigte Stadt. Gegründet 1608 konnte sich die damalige Hauptstadt Neufrankreichs und heute der Provinz Québec bis weit ins 18. Jahrhundert erfolgreich verteidigen; nicht zuletzt dank ihrer hervorragenden strategischen Lage auf einer Anhöhe über einer Stromenge. Das indianische Wort Kebec bedeutet „wo der Fluss sich verengt“. Erst 1759 fiel die Stadt an die Engländer, die den Einwohnern allerdings schon 1774 weitgehende Zugeständnisse bezüglich Religionsfreiheit und Muttersprache einräumten. Québec blieb seitdem durch und durch französisch. Noch heute droht von jedem Autokennzeichen der Provinz der Slogan „Je me souviens“ – „Ich erinnere mich“.

Die Fähre setzt uns am späten Vormittag, als die heftigen Regengüsse abgeklungen sind, von Lévis nach Québec über. In die Oberstadt gelangt man entweder mit dem Funiculaire, einer Art kostenpflichtigem Fahrstuhl oder – gesünder – über steile Straßen und Treppen. Die komplett erhaltene Altstadt aus dem 17. und 18. Jahrhundert ist absolut sehenswert. Phantasievoll geschmückte Restaurants, Bistros, Boutiquen und Läden drängen sich in engen Gassen aneinander. Das gepflegte historische Ambiente begeistert selbst die diesbezüglich verwöhnten Europäer. Natürlich gibt es nichts Billiges hier. In einer Boutique zum Beispiel kann sich die trendbewusste Dame ein Paar modische Gummistiefel in olivgrün für schlappe 155 Dollar kaufen – zuzüglich Steuer, versteht sich. Da sind mir die zwei Barren Streusel gedeckten Apfelkuchens aus der französischen Patisserie lieber.

Beim CAA in Halifax, dem kanadischen ADAC, hatte ich kostenlos Landkarten für sämtliche Provinzen Kanadas erhalten – außer für Québec. Ich starte einen neuen Versuch in der Touristeninformation Québec Citys. Dort drückt man mir einen DIN A 4 großen Lappen in die Hand mit dem Tipp, um die Ecke könnte man für ein paar Dollar richtige Karten kaufen. Dafür kann ich Stadtpläne und -führer für sämtliche Städte dieser Provinz erhalten. Immerhin, nächstes Ziel ist Montreal.

Die heutige Nacht verbringen wir im Schutz der heiligen Kirche. Hinter dem Heiligtum „Notre-Dame de la Paix“ von St. Thomas befindet sich ein kleines, unbenutztes Grundstück, das unser heutiger Schlafplatz werden möchte.

Le Bic, Québec – Panische Eiderküken und ein Fünf-Sterne-Kuhstall

Mittwoch, Juni 2nd, 2010

Der St.-Lorenz-Strom gilt weltweit als einer der besten Walbeobachtungsspots. Klares Wasser aus den großen Seen im Grenzgebiet von Kanada und den USA sammelt sich im St.-Lorenz-Strom, mündet im St.-Lorenz-Golf und schließlich in den Atlantik. Am Unterlauf der Mündung sinkt die Wassertiefe schlagartig von 340 auf unter 40 Meter. Nährstoffreiches Wasser wird an die Oberfläche gepresst und gibt Plankton und damit vielen anderen Meeresbewohnern Nahrung bis weit in den Atlantik hinein.

Der Parc National du Bic ist ein Naturschutzgebiet direkt am St.-Lorenz-Strom mit etlichen Buchten, Felsen, Inseln und Salzmarschen. Wir haben Glück und können Seehunde und die scheuen Eiderenten beobachten. Wie in der Vogelwelt üblich, sind nur die Männchen prächtig gefärbt in weiß, schwarz und gelb. Eine dicht gedrängte Gruppe von 14 neutralfarbenen Entenmüttern und einer nicht näher zu bestimmenden Anzahl winziger panisch paddelnder Küken flüchtet vor uns. Bei einem Blick ins Fernglas entdeckt Jörg sogar ein paar Wale. Bei Ebbe sind wir zur Tierbeobachtung weit in die Bucht hineingewandert. Das rächt sich, als es plötzlich stark zu regnen beginnt und wir den weiten Weg zurücklaufen müssen. Nach wenigen Minuten schlackern uns die durchnässten Hosenbeine um die Waden, wenigstens die wasserdichte Jacke hält trocken. Jeans sind zum Wandern ein denkbar dummes Bekleidungsstück. In einer Region mit schnellen Wetterwechseln empfiehlt sich das Tragen wasserabweisender Wanderhosen. Es ist ja nicht so dass wir keine hätten. Wir lernen – fürs nächste Mal. Zwei Stunden später steigt die Temperatur genau so rasant von 12 auf 22°.

Die Gegend am St.-Lorenz-Strom stellt sich ausgesprochen attraktiv dar. Grüne Weiden und Laubhölzer auf der Südseite, die Berge der Laurentiden am Nordufer und hohe Baum bestandene Inseln in der Mündung. Ein Dorf reiht sich ans andere, die Häuser sind entzückend. Neben den in Nordamerika üblichen Holzhäusern wird hier viel mit Stein gebaut. Fast immer sind die Gebäude mit Giebeln, Vorbauten, Balkonen oder Terrassen geschmückt. Souvenirshops, Boutiquen, kleine spezialisierte Lebensmittelhandel oder Kunstgewerbeläden sind oft ausgesprochen liebevoll verziert, sodass schon auf weite Entfernung klar wird, was hier and den Mann oder die Frau gebracht werden soll. Manchmal steht sogar das farblich passende Auto vor einem bunten Haus: beige zu beige, blau zu blau, rot zu rot. Wenn das nicht französische Eleganz ist. Überhaupt unterscheiden sich die Fahrzeuge stark vom Rest Kanadas. Anstelle der sonst beliebten Pick-up Trucks und Geländewagen sieht man hier hauptsächlich Limousinen und Kleinwagen. Auffällig ist, neben den üblichen japanischen Marken, die Dichte deutscher Pkw aller Klassen, je nach Geldbeutel. Selbst Sportwagen sind ein echter Verkaufsschlager. Französische Fahrzeuge fehlen dagegen völlig. Woran das wohl liegen mag? Über alldem jedoch wacht die katholische Kirche. Das kleinste Dorf noch wird überragt von einer unverhältnismäßig großen Kirche, deren silber-graues Dach weit in die Umgebung mahnt.

Das wohl ungewöhnlichste Gebäude ist ein 5-Sterne-Kuhstall. Das großzügige Gebäude steht auf einem kleinen Berg am St.-Lorenz-Strom. Damit die Kühe die Aussicht entsprechend genießen können, ist der Bau deckenhoch verglast. Die wunderschönen schwarz-weißen Rinder stehen wie hinter einem Schaufenster. Bei dem Luxus wundert es nicht, dass der Liter Milch stellenweise fast vier Dollar kostet.

Aber natürlich gibt es auch das andere Québec. Hier wird weniger amerikanisch-freundlich gelächelt, dafür mehr europäisch gedrängelt. Beim Autofahren hält man sich weniger penibel an die Vorschriften. Andere Reisende berichten nicht vorbehaltlos positiv über diese Provinz. Wir erreichen um zehn nach fünf die Touristeninformation. Die beiden Mitarbeiterinnen stehen gerade vor der Türe und informieren mich, dass bereits geschlossen ist. So weit so gut. Sie fragen mich trotzdem, was ich will. Als ich ihnen erkläre, dass ich nur eine Landkarte von Québec möchte, zucken sie mit den Achseln und begeben sich zurück in ihr Büro. Tja, es ist eben schon geschlossen, sagen sie im Gehen. Was fragen sie dann erst?

Entgegenkommende Reisende sowie der Reiseführer haben uns informiert, dass Québec City Wohnmobilen das Parken nicht erlaubt. Wir haben uns bei Mélies Eltern kundig gemacht und beschlossen, auf der anderen Flussseite in Lévis stehen zu bleiben. Auch die wollen keine Wohnmobile, aber direkt neben dem Fähranleger gibt es einen 24-Stunden-Parkplatz auch für Camper. Der kostet zwar Geld, dafür können wir bis zum nächsten Abend bleiben. Der Postkartenausblick auf die Altstadt von Québec ist im Preis inbegriffen. Morgen wollen wir ohne Auto mit der Fähre nach Québec City übersetzen.

Le Bic, Québec – Panische Eiderküken und ein Fünf-Sterne-Kuhstall

Mittwoch, Juni 2nd, 2010

Der St.-Lorenz-Strom gilt weltweit als einer der besten Walbeobachtungsspots. Klares Wasser aus den großen Seen im Grenzgebiet von Kanada und den USA sammelt sich im St.-Lorenz-Strom, mündet im St.-Lorenz-Golf und schließlich in den Atlantik. Am Unterlauf der Mündung sinkt die Wassertiefe schlagartig von 340 auf unter 40 Meter. Nährstoffreiches Wasser wird an die Oberfläche gepresst und gibt Plankton und damit vielen anderen Meeresbewohnern Nahrung bis weit in den Atlantik hinein.

Der Parc National du Bic ist ein Naturschutzgebiet direkt am St.-Lorenz-Strom mit etlichen Buchten, Felsen, Inseln und Salzmarschen. Wir haben Glück und können Seehunde und die scheuen Eiderenten beobachten. Wie in der Vogelwelt üblich, sind nur die Männchen prächtig gefärbt in weiß, schwarz und gelb. Eine dicht gedrängte Gruppe von 14 neutralfarbenen Entenmüttern und einer nicht näher zu bestimmenden Anzahl winziger panisch paddelnder Küken flüchtet vor uns. Bei einem Blick ins Fernglas entdeckt Jörg sogar ein paar Wale. Bei Ebbe sind wir zur Tierbeobachtung weit in die Bucht hineingewandert. Das rächt sich, als es plötzlich stark zu regnen beginnt und wir den weiten Weg zurücklaufen müssen. Nach wenigen Minuten schlackern uns die durchnässten Hosenbeine um die Waden, wenigstens die wasserdichte Jacke hält trocken. Jeans sind zum Wandern ein denkbar dummes Bekleidungsstück. In einer Region mit schnellen Wetterwechseln empfiehlt sich das Tragen wasserabweisender Wanderhosen. Es ist ja nicht so dass wir keine hätten. Wir lernen – fürs nächste Mal. Zwei Stunden später steigt die Temperatur genau so rasant von 12 auf 22°.

Die Gegend am St.-Lorenz-Strom stellt sich ausgesprochen attraktiv dar. Grüne Weiden und Laubhölzer auf der Südseite, die Berge der Laurentiden am Nordufer und hohe Baum bestandene Inseln in der Mündung. Ein Dorf reiht sich ans andere, die Häuser sind entzückend. Neben den in Nordamerika üblichen Holzhäusern wird hier viel mit Stein gebaut. Fast immer sind die Gebäude mit Giebeln, Vorbauten, Balkonen oder Terrassen geschmückt. Souvenirshops, Boutiquen, kleine spezialisierte Lebensmittelhandel oder Kunstgewerbeläden sind oft ausgesprochen liebevoll verziert, sodass schon auf weite Entfernung klar wird, was hier and den Mann oder die Frau gebracht werden soll. Manchmal steht sogar das farblich passende Auto vor einem bunten Haus: beige zu beige, blau zu blau, rot zu rot. Wenn das nicht französische Eleganz ist. Überhaupt unterscheiden sich die Fahrzeuge stark vom Rest Kanadas. Anstelle der sonst beliebten Pick-up Trucks und Geländewagen sieht man hier hauptsächlich Limousinen und Kleinwagen. Auffällig ist, neben den üblichen japanischen Marken, die Dichte deutscher Pkw aller Klassen, je nach Geldbeutel. Selbst Sportwagen sind ein echter Verkaufsschlager. Französische Fahrzeuge fehlen dagegen völlig. Woran das wohl liegen mag? Über alldem jedoch wacht die katholische Kirche. Das kleinste Dorf noch wird überragt von einer unverhältnismäßig großen Kirche, deren silber-graues Dach weit in die Umgebung mahnt.

Das wohl ungewöhnlichste Gebäude ist ein 5-Sterne-Kuhstall. Das großzügige Gebäude steht auf einem kleinen Berg am St.-Lorenz-Strom. Damit die Kühe die Aussicht entsprechend genießen können, ist der Bau deckenhoch verglast. Die wunderschönen schwarz-weißen Rinder stehen wie hinter einem Schaufenster. Bei dem Luxus wundert es nicht, dass der Liter Milch stellenweise fast vier Dollar kostet.

Aber natürlich gibt es auch das andere Québec. Hier wird weniger amerikanisch-freundlich gelächelt, dafür mehr europäisch gedrängelt. Beim Autofahren hält man sich weniger penibel an die Vorschriften. Andere Reisende berichten nicht vorbehaltlos positiv über diese Provinz. Wir erreichen um zehn nach fünf die Touristeninformation. Die beiden Mitarbeiterinnen stehen gerade vor der Türe und informieren mich, dass bereits geschlossen ist. So weit so gut. Sie fragen mich trotzdem, was ich will. Als ich ihnen erkläre, dass ich nur eine Landkarte von Québec möchte, zucken sie mit den Achseln und begeben sich zurück in ihr Büro. Tja, es ist eben schon geschlossen, sagen sie im Gehen. Was fragen sie dann erst?

Entgegenkommende Reisende sowie der Reiseführer haben uns informiert, dass Québec City Wohnmobilen das Parken nicht erlaubt. Wir haben uns bei Mélies Eltern kundig gemacht und beschlossen, auf der anderen Flussseite in Lévis stehen zu bleiben. Auch die wollen keine Wohnmobile, aber direkt neben dem Fähranleger gibt es einen 24-Stunden-Parkplatz auch für Camper. Der kostet zwar Geld, dafür können wir bis zum nächsten Abend bleiben. Der Postkartenausblick auf die Altstadt von Québec ist im Preis inbegriffen. Morgen wollen wir ohne Auto mit der Fähre nach Québec City übersetzen.